Dollar am Sonntag

Aus Gewöhnung lernen

am
25. Oktober 2020

EUR USD (1,1860)             Eigentlich geschah es fast unbemerkt, dass der Euro gegenüber dem US-Dollar während der vergangenen Handelswoche so stark anzog wie zuletzt vor rund drei Monaten. Und das, obwohl in vielen Staaten der EU neue Rekordzahlen an Covid-19-Infektionen zu vermelden waren – teilweise mit exponentiellem Anstieg. Tatsächlich konnte man anhand der Kursentwicklung – auch an den Aktienmärkten – fast den Eindruck gewinnen, die Akteure hätten sich selbst an solche Steigerungszahlen mittlerweile schon wieder gewöhnt. Aber diese Erklärung wäre zu einfach, wenn nicht gar falsch. Zumal es sich bei den Infektionszahlen hierzulande ebenso wie in den USA immerhin um Nachrichten-Impulse geht, die gegenüber der Vorgängernachricht hinsichtlich ihrer Intensität eine deutliche Steigerung aufweisen.

 

Erkenntnisse aus der Psychophysik

Um das Prinzip der Gewöhnung besser verstehen zu können, das von den Kommentatoren gerne als Begründung für die nachlassende Reaktion der Akteure auf bestimmte Nachrichten herangezogen wird, sind die Erkenntnisse der Psychophysik äußerst hilfreich. Erkenntnisse, auf denen übrigens auch die Theorie der relativen Bewertung aus der Behavioral Finance fußt.

So wissen wir etwa, dass ein akustischer Reiz mit einer bestimmten Lautstärke umso stärker wahrgenommen wird, je geringer das Grundgeräusch ist. In einer ruhigen Umgebung wird man selbst ein Flüstern hören, während selbst lautes Reden in einem tosenden Fußballstadion untergeht.

Allgemeiner beschreibt diesen Sachverhalt das sogenannte Weber‘sche Gesetz: Je höher ein Grundreiz ist, desto stärker muss ein zusätzlicher Reiz ausfallen, damit er wahrgenommen wird. Solange diese zusätzlichen Reize also ausreichend stark ausfallen, werden sie auch wahrgenommen. So wie exponentiell steigende Zahlen zu den Covid-19-Infektionen.

 

Ein immergleicher Impuls

Aber zurück zu den Finanzmärkten. Nun war die Entwicklung der Covid-19-Infektionszahlen nicht die einzige Information, die die Akteure erhielten. Und es ist auch nicht so, dass die Nachrichten zur Corona-Krise keinen Niederschlag in den Kursen gefunden hätten. Die Aktienmärkte verloren in der vergangenen Woche zeitweise an Boden, genauso wie der US-Dollar zwischenzeitlich eine kleinere Aufwärtskorrektur produzierte. Aber alleine die Hoffnung auf ein Stimulus-Paket in den USA, für das sich die dortigen Demokraten und Republikaner immer noch nicht auf ein Kompromiss einigen konnten, hat angeblich einen nachhaltigeren Einbruch der Aktienkurse zumindest in der vergangenen Woche verhindert.

Diese Hoffnung ist jetzt schon so häufig als Rechtfertigung für Aktienkäufe bemüht worden (vgl. etwa HIER), dass man sich fast Sorgen machen muss, ob die Verkündigung der Einigung auf einen (unwahrscheinlichen) Kompromiss vor dem Wahltag überhaupt noch signifikante Anschlussnachfrage nach Aktien erzeugen wird. Nach dem Motto: „Buy the rumour, sell the fact“. Seltsam überhaupt, dass sich bei diesen Nachrichten noch keine Gewöhnungserscheinungen bei den Akteuren eingestellt haben.

 

Aus Erfahrung gelernt

Vielleicht haben die Finanzmarktteilnehmer aber auch aus der Erfahrung der vergangenen sieben Monate gelernt, als sie die eindrucksvolle Erholung der Aktienkurse nach dem Corona-Einbruch miterleben konnten. Denn für die meisten von ihnen hat es sich seither nicht ausgezahlt – obwohl sicherlich zeitweise gerechtfertigt –, auf fallende Aktienkurse und negative Stimmung zu setzen. Vielmehr werden zurzeit aufgrund dieser Erkenntnis immer wieder Rücksetzer fast schon blind und automatisch, also im Grunde viel zu sorglos genutzt, um verpasste Käufe nachzuholen.

Auch der Euro hat sich zum Wochenschluss im Rahmen seines kurzfristigen Aufwärtstrends (mit der Perspektive auf neue Jahreshochs jenseits von 1,20) am Freitag eindrucksvoll zurückgemeldet und bleibt in positivem Fahrwasser, solange 1,1760 nicht unterlaufen wird.

 

 

Hinweis

Die genannten Preisniveaus verlieren ab einer bestimmten Durchstoßgröße ihre Gültigkeit. Diese beträgt für EUR/USD 5 Stellen.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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