BEHAVIORAL LIVING
Die ganze Welt ist eine Bühne, sagt Shakespeare, und dieses Diktum gilt nicht nur für die Finanzmärkte, mit denen ich mich vor allem beschäftige, sondern auch für alle anderen Bereiche des Lebens. Am Ende müssen immer Entscheidungen getroffen werden, im Drama wie im Wirtschaftsleben, und diese Entscheidungen bringen Gewinne oder Verluste, Siege oder Niederlagen, Erfolge oder Unglück.
Unter dem Namen Behavioral Economics sind Ökonomie und Psychologie schon vor einigen Jahrzehnten zu einer wissenschaftlichen Disziplin zusammengeführt worden, um die Untersuchung, welchen Einfluss ökonomische Gegebenheiten und Trends auf die Entwicklung der Märkte ausüben, nicht allein den Wirtschaftswissenschaften zu überlassen.
Denn Menschen handeln auf dem Markt bei weitem nicht so vernünftig, wie Ökonomen dies gerne vorhersagen. Vielmehr muss der kühle Kopf und rationale Entscheider, der nur nach der Maximierung seiner Gewinne strebt, als ein theoretisches Konstrukt gelten, dem in der Wirklichkeit kein lebendes Subjekt entspricht. Denn jeder Mensch möchte sich bei dem, was er tut, auch wohlfühlen. Mit anderen Worten: Dem Verhalten der Marktteilnehmer an den Finanzmärkten liegen andere Motive zu Grunde als das reine Streben nach Gewinnmaximierung. So ist schon allein der Vergleich mit Anderen mindestens so wichtig wie der monetäre Erfolg. Es genügt eben nicht, eine Million Euro zu besitzen – wirklich erfreuen kann man sich daran nur in dem Bewusstsein, dass die meisten Menschen niemals so viel Geld haben werden wie man selbst.
Auch wenn sich viele Marktteilnehmer vornehmen, bei ihren Engagements möglichst rational vorzugehen, bleiben die Ergebnisse ihrer Entscheidungen meist hinter ihren Erwartungen und hinter einem möglichen maximalen Erfolg zurück.
Denn sie lavieren ständig zwischen den beiden Polen „Geldverdienen“ und „Wohlbefinden“, wobei Wohlbefinden häufig Geld kostet, während das Streben nach zu viel Geld ans Wohlbefinden geht – ein nicht aufzulösender Widerspruch, dem die Behavioral Economics Rechnung trägt. Wegweisend für die Entwicklung dieser wissenschaftlichen Disziplin waren unter anderem die Erkenntnisse des US-Psychologen und Nobelpreisträgers Daniel Kahneman und seines 1996 verstorbenen Partners Amos Tversky. So hatten die beiden bereits Ende der 1970er Jahre in vielen Experimenten immer wiederkehrende Reaktionsmuster beobachten und nachweisen können, durch die das Verhalten der Menschen bei Entscheidungen unter Unsicherheit maßgeblich beeinflusst wird. Mathematisch unlogisch, psychologisch aber virulent ist zum Beispiel die Tatsache, dass Verluste mehr als doppelt so schwerwiegend erlebt werden wie Gewinne in gleicher Höhe.
Diese Verhaltensmuster sind aber nicht nur den Akteuren an den Märkten vorbehalten, sondern gelten für alle Lebensbereiche. Ob es sich nun um den Kauf einer Waschmaschine, eines Autos, eines Grundstücks oder ob es sich um eine Eheschließung handelt – die Erkenntnisse der Behavioral Economics lassen sich mühelos auf Entscheidungen in Lebensfragen aller Art übertragen. Die Wissenschaft, die sich mit den systematischen Irrtümern und Fehleinschätzungen im Alltagsleben befasst, möchte ich daher gerne mit dem Begriff „Behavioral Living“ bezeichnen.