Nicht nur Ökonomen brauchen Anker
EUR USD (1,1225) Was die ökonomische Situation in den USA betrifft, brachte der gestrige Handelstag wenig Erhellendes. Ja, das Plus bei den Auftragseingängen für langlebige Wirtschaftsgüter war in der Kernrate mit 4,0 Prozent (ggü. Vormonat) fast doppelt so stark wie die Medianprognose der Ökonomen ausgefallen. Schon bei dem Minus von 7,7 Prozent desselben Datums im Mai war ich kaum imstande einzuschätzen, wie schlimm dieser Einbruch tatsächlich war. Und auch jetzt fällt es mir schwer, die aktuelle Erholung einzuordnen. Abgesehen davon, dass man sich auch kaum vorstellen kann, was diese Zahlen für die Betroffenen bedeuten. Und so ist dieses Plus von 4,0 Prozent gegenüber dem Vormonat zwar gut, aber eben nur relativ gut. Denn seine Bewertung hängt von den Bezugspunkten ab, auf die die Marktteilnehmer ihr Urteil stützen. Kurzum: Diese Zahl von +4,0 Prozent sieht gegenüber dem Vormonat gut aus und auch gegenüber dem, was die Ökonomen vorhergesagt hatten.
Bezugspunkte gesucht
Indes: All diese Daten sind aufgrund eines bislang noch nie dagewesenen „Wachkomas“ der Volkswirtschaften in vielen Ländern entstanden, hervorgerufen durch den Lockdown, der in den USA und anderswo verhängt wurde. Volkswirtschaften, von denen man annimmt, dass sie hoffentlich bald aus der Narkose erwachen und schnell genesen. Aber genau so wenig, wie die langfristigen gesundheitlichen Folgen einer Corona-Infektion bisher eingehend erforscht werden konnten, können wir jetzt schon die Folgen und Nebenwirkungen des Narkosemittels für die Weltwirtschaft abschätzen. Und es ist ganz natürlich, dass sich Analysten und Akteure an den Finanzmärkten genauso schwertun wie „Joe Normal“, wenn sie etwas einschätzen sollen, was sie so noch nie erlebt haben. Und in dieser Orientierungslosigkeit verlässt man sich gerne auf Bezugspunkte, die allerdings nicht immer richtig sein müssen. Man spricht man diesem Zusammenhang von (manchmal irrelevanten) Ankern.
Einfluss von Ankern auf Unwissenheit
Tatsächlich erinnern mich die Ökonomen und Kommentatoren zurzeit an die orientierungslosen Probanden aus einem Experiment der Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman aus dem Jahr 1974. So sollten sie schätzen, wie hoch der prozentuale Anteil der afrikanischen Staaten an den Vereinten Nationen sei. Gleichzeitig wurde für die Probanden mithilfe eines Glücksrads (mit Zahlen zwischen 1 und 100) zufällig eine Zahl ermittelt – mit einem eindrucksvollen Resultat. Denn der Prozentsatz des von den Probanden angegebenen Anteils der afrikanischen Staaten wurde durch die vom Glücksrad gefundene Zahl deutlich beeinflusst: Die Schätzungen gingen in Richtung dieser eigentlich irrelevanten Zahl. Gleichzeitig war mit dem Experiment die sogenannte Verankerungsheuristik nachgewiesen. Dabei sei betont, dass natürlich nicht nur Ökonomen, sondern jeder Mensch – auch diejenigen, die von der Existenz dieser Anker wissen – tagtäglich und oft unbewusst von eben manchmal irrelevanten Ankern beeinflusst werden.
Auch Trendeinschätzungen können als Anker wirken, um Marktentwicklungen beurteilen zu können. Und genau so ein Trend, nämlich der kurzfristige Aufwärtstrend des Euro, ist gestern gegenüber dem Dollar verletzt worden. Nicht richtig deutlich („nur“ 10 Stellen), so dass man geneigt sein könnte, noch einmal ein Auge zuzudrücken. Aber Händler wissen, dass das nicht klug ist. Damit ist die Gemeinschaftswährung kurzfristig in eine Seitwärtsentwicklung gedrängt, bleibt aber oberhalb von 1,1095/00 noch ordentlich nachgefragt.
Hinweise
Alle genannten Preisniveaus verlieren ab einer bestimmten Durchstoßgröße ihre Gültigkeit. Diese beträgt für EUR/USD 5 Stellen.
Aus persönlichen Gründen erscheint der nächste „Dollar am Morgen“ erst am Dienstag, den 30. Juni.