Behavioral Ethics Gesellschaft

Am Anfang war der Kugelschreiber (Kulturwandel und Behavioral Ethics Teil 4)

am
11. September 2013

Dass sich kleine Verfehlungen mit der Zeit zu großen Sünden auswachsen können, ohne dass das schlechte Gewissen der Betroffenen im selben Umfang mitwächst, zeigte sich am Ende meines dritten Blogs zum Kulturwandel und der neuen  Behavioral Ethics. Am Anfang war es doch nur ein Kugelschreiber, der aus dem Büro mit nach Hause genommen wurde. Später wird erst die Reisekostenabrechnung, dann die Steuererklärung zum eigenen Vorteil „frisiert“. Ein kleiner Versicherungsbetrug wiegt schließlich moralisch auch nicht mehr so richtig schwer, selbst beim „Incentive“-Besuch, zu dem der Chef in einen osteuropäischen Puff geladen hat, melden sich keine Skrupel. Dabei handelt es sich nicht einmal in allen Fällen um gesetzlich strafbare Vergehen. Im Nachhinein kann man das ja auch alles rechtfertigen und relativieren: Der Verlust eines Kugelschreibers wird dem Arbeitgeber kein Loch in die Bilanz reißen, und mit der leicht veränderten Reisekostenabrechnung wolle man sich ja nur zurückholen, was man dem Chef an unbezahlten Überstunden geschenkt habe. Und mogeln andere nicht auch beim selbstverursachten Haftpflichtschaden?

Bei vielen Sündern handelt es sich nicht immer um von Grund auf schlechte oder unehrliche Menschen. Häufig haben sie aber jede Tuchfühlung mit den gesellschaftlichen Normen verloren, schon weil in den Kreisen, in denen sie verkehren, weniger strenge oder sogar andere Normen gelten. (vgl. auch Blogbeitrag von Herman Brodie).

Genauso muss man sich die Frage stellen, wie es möglich sein kann, dass sich Menschen in einem Bereich ihres Lebens moralisch einwandfrei verhalten und sogar mit ihrem Geld großzügig soziale Einrichtungen unterstützen, während sie eine zweite Existenz in einer anderen Welt führen, wo sie dann in großem Stile Steuern hinterziehen? Wie kann es sein, dass ein fürsorglicher Familienvater seinen Kindern Respekt und Rücksichtnahme predigt, um nur wenige Stunden später kaltblütig einen langjährigen Mitarbeiter zu feuern?

 

Keine gespaltenen Persönlichkeiten

Man muss nicht an Schizophrenie leiden, um zu derartig widersprüchlichen Verhalten fähig zu sein. Vielmehr bieten die Erkenntnisse der Behavioral Economics eine plausible und nicht pathologische Erklärung für dieses Phänomen[1]. Genau wie Gewinne und Verluste nicht absolut, sondern relativ zu einem Bezugspunkt wahrgenommen werden, verhält es sich mit „Gut“ und „Böse“ (vgl. auch Beitrag zum Kulturwandel Teil 3). Tatsächlich geht es vor allem darum, „besser“ oder „schlechter“ im Vergleich zu anderen zu sein. Und so wie Gewinne und Verluste, mit abnehmender Sensitivität wahrgenommen werden, ergeht es auch dem Guten und Schlechten. Der erste Ladendiebstahl lastet demnach schwerer auf dem Gewissen als der siebte. Und auch das Hochgefühl, das sich beim „Sozialen Tag“ eingestellt hatte, als man im Auftrag des Arbeitgebers Suppen in einer Armenküche austeilen sollte, schwindet mehr und mehr, je öfter der Chef einen zu diesem Engagement verpflichtet. Zudem unterliegt der Referenzpunkt, die Trennlinie zwischen Gut und Böse, auch noch Veränderungen, besonders in Folge von Gewöhnungseffekten.

Ethik kommt vornehmlich dann ins Spiel, wenn Verluste entstanden sind, weil jemandes Verhalten unter dem Standard der sozialen Normen liegt. Um solche Situationen zu vermeiden, genügt es jedoch nicht, sich auf Regeln und Regulierungen zu verlassen. Vielmehr müssen wir erkennen, dass es keine absolute Moral und keine ethisch völlig korrekte Menschen gibt. Und verstehen, warum Menschen unter bestimmten Bedingungen Dinge tun, die sie selbst nie für möglich gehalten hätten. Situationsabhängige Einflussfaktoren, die schleichende Veränderung von Normen, manchmal alleine durch Fortschreiten der Zeit, haben leider das Zeug, uns alle zu korrumpieren.



[1] Genauso wie es in der verhaltensorientierten Ökonomie die mentale Kontoführung gibt, wonach Menschen für jede ihrer Entscheidungen im Kopf ein eigenes Konto führen, gilt dies auch für den ethischen Aspekt von Entscheidungen.

 

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1 Kommentar
  1. Antworten

    Simon Hoff

    11. September 2013

    Interesanter Artikel, dazu empfehle ich auch die Lektüre von Brett & Kate McKay, „What Strengthens and Weakens Our Integrity“: http://www.artofmanliness.com/2013/08/05/what-strengthens-and-weakens-our-integrity-part-i-why-small-choices-count/

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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