Süße oder bittere Sechzehn?
Nun hat es der Euro gestern endlich geschafft, nach einem kleinen Rücksetzer die Marke von 1,20 zu überwinden. Nicht dass ich runden Zahlen eine besondere Bedeutung beimessen würde. Vielmehr halte ich sie für ganz normale Kursstände wie alle anderen auch, aber viele technische Analysten sehen in ihnen „psychologisch wichtige Niveaus“, und tatsächlich glauben viele Anleger, mit ihrer Überwindung sei eine magische Schwelle überschritten. Irgendetwas muss dran gewesen sein, dass die Gemeinschaftswährung seit vergangenen Mittwoch immer kurz vor besagter 1,20 haltmachte. Aber vielleicht gelang der Sprung über diese Hürde gestern einfach nur deshalb, weil es keine wichtigen ökonomischen Daten zu begutachten gab – mancherorts wurde auch auf fehlende große Optionsfälligkeiten verwiesen.
Runde Zahlen als Weckfunktion
Aber genauso wie die runden Zahlen bestenfalls als Weckfunktion für Finanzmarktteilnehmer dienen, die sich nicht jeden Tag mit Devisen- oder Aktienkursentwicklungen beschäftigen mögen, verhält es sich mit manchen Phänomenen, die immer wieder dann gerne hervorgekramt werden, wenn es an den Märkten gerade ruhig ist oder die Kommentatoren nicht so recht wissen, wie es weitergeht. Marktphänomene, die funktionieren können, aber nicht müssen. Jedenfalls wundere ich mich dabei immer wieder, was da an angeblich profitablen Regeln herausgefunden wird.
Korrektur am US-Aktienmarkt fällig?
So fand nun etwa eine schlaue Kommentatorin heraus, dass der US-Aktienindex S&P 500 während der Pandemie immer dann ein Signal für eine (größere) Abwärtskorrektur gegeben hat, wenn sich der Index um 16 Prozent von seiner 200-Tage-Linie nach oben entfernte. Ein Phänomen, das man seit September vergangenen Jahres insgesamt fünf Mal beobachten konnte. Und gestern hatte sich nun der Index während der Handelssitzung wieder einmal um genau diese 16 Prozent von seiner 200 Tage-Linie nach oben entfernt und somit ein weiteres Signal für eine (größere) Korrektur gegeben[1].
Die Strategie funktioniert …
Nun könnte man natürlich festhalten, dass solche Regeln etwas Magisches haben. Ein ausgefeilter Prozentsatz von 16 Prozent – das ist eine Zahl, die dem Betrachter durchaus zum Repräsentativitätsirrtum verleiten kann. Einer solchen eigentlich unauffälligen Zahl muss einfach – so der mentale Kurzschluss – eine ausgeklügelten Strategie zugrunde liegen, könnte man meinen. Warum ausgerechnet die 16? Warum nicht 15,14, oder gar 13,5 Prozent? Der Verdacht liegt nahe, dass jemand so lange herumprobiert hat, bis der Wert herausgefunden war, der das beste Ergebnis lieferte. Man könnte auch von einer Optimierung einer Variablen sprechen. Und bösartigerweise könnte ich nun behaupten, dass der Wert von 16 Prozent am besten funktioniert hat.
… aber nur in der Vergangenheit
Einmal abgesehen davon, dass in der mir vorliegenden Grafik nur die (viel zu kurze) Zeit seit Beginn der Pandemie untersucht wurde, hat diese Optimierung tatsächlich fünf Ereignisse hervorgebracht, die alle ein richtiges Signal gegeben haben sollen, was einer Trefferquote von 100 Prozent entspräche. Aber eben nur in der Vergangenheit. Und es gibt keine Garantie dafür, dass es sich beim gestrigen Signal ebenfalls wieder um einen Treffer handeln wird. Zumal die Regel nicht verrät, wann etwaige Gewinne, die dieser wunderbaren Regel entspringen sollen, realisiert werden sollen. Ich frage mich jedenfalls, worin der Nutzen – abgesehen von ihrem Spannungsfaktor und Unterhaltungswert – solcher Erkenntnisse liegen mag.
Aber zurück zum Euro: Der bleibt trotz des Überspringens von 1,20 in seiner Seitwärtsentwicklung, befindet sich aber in einem stabilen Umfeld, solange er sich nun oberhalb von 1,1910/15 (also deutlich höher) bewegt.
Hinweis
Die genannten Preisniveaus verlieren ab einer bestimmten Durchstoßgröße ihre Gültigkeit. Diese beträgt für EUR/USD 5 Stellen.
[1] Anm.: Ich habe die einzelnen Signale lediglich anhand einer Grafik verifizieren können, bei der nicht erkennbar war, ob es sich um Schlusskurse oder wie gestern um einen Intraday-Kurs des S&P 500-Index handelte.