Richtungswechsel
In einer Woche wird das Moratorium, das die Kanzlerin angekündigt hatte, um die Verlängerung der Laufzeit von Atommeilern in Deutschland zu überdenken, offiziell zu Ende gehen. Damals hatte ich mich gefragt, ob Angela Merkel angesichts der Ereignisse von Fukushima in ihrer bisherigen Atompolitik die Notbremse gezogen, wenn nicht sogar kapituliert habe. Eine Frage, die ich dann doch mit einem glatten Nein für mich beantwortet hatte. Trotzdem wundere ich mich jetzt, was während der vergangenen Wochen alles passiert ist. Denn unsere zuletzt nicht gerade zupackend und entschlossen auftretende Kanzlerin scheint geradezu eine Metamorphose in Sachen politischer Entscheidungsfähigkeit durchlaufen zu haben. So wurde die Entscheidung zur Zukunft der Atomkraft so zügig getroffen, dass einigen konservativen Parteimitgliedern und Liberalen ganz schwindlig dabei wurde. Ja, die Energiewende, die heute beschlossen werden soll, bringt die Kanzlerin entscheidungstechnisch geradewegs von „behind“ zu „ahead of the curve“, wie man in gepflegtem Neudeutsch sagen würde. So schnell und überzeugend agiert sie in dieser Sache, dass sich vor allem die grüne Opposition eines ihrer wichtigsten parteipolitischen Themen beraubt sehen muss. Doch wer glaubt, Frau Merkel fahre mit eben diesen Grünen neuerdings einen Kuschelkurs, um vielerorts womöglich schwarz-grüne Koalitionen Wirklichkeit werden zu lassen, muss damit nicht unbedingt richtig liegen. Auch ist unklar, ob die neuerdings entfachte Merkel‘sche Entscheidungsfreude tatsächlich den jüngsten Wahlschlappen ihrer Partei geschuldet ist und somit nur als hektische Überreaktion zu gelten hat.
Zweifellos hat die Kanzlerin in einer schwierigen parteipolitischen Phase mit den Ereignissen um Fukushima Pech und ein Quäntchen Glück zugleich gehabt. Pech, weil die ursprüngliche Entscheidung, die Laufzeiten für Atomkraftwerke zu verlängern, offenbar falsch war und somit modifiziert, wenn nicht gar rückgängig gemacht werden musste. Glück, weil sich bei der Mehrheit der Bundesbürger während der vergangenen beiden Monate die Normen hinsichtlich der Atomkraft massiv verschoben haben. Es ist genau diese Verschiebung, die den Richtungswechsel der Kanzlerin leicht gemacht hat. Denn Entscheidungen, die den (gesellschaftlichen) Normen entsprechen, bringen ein geringeres Commitment mit sich als solche, die gegen diese verstoßen. So gesehen ist der Richtungswechsel in Sachen Atomkraft gar nicht so mutig, wie er auf den ersten Blick aussehen mag. Denn die Konformität mit dem breiten Bürgerwillen macht zum einen den Rückzug von der alten Entscheidung leichter, zum anderen ist die neue Haltung zur Atomkraft zumindest aus dieser Perspektive mit einem geringeren Commitment verbunden. Vielleicht ist Frau Merkel also deshalb so schnell vorgeprescht, weil sie wusste, dass die Mehrheit der Wähler hinter der Kurve sich zumindest in der Energiepolitik treu an ihre Fersen heften würde.