Behavioral Living Verschiedenes

Kuriertes Mitgefühl

am
17. September 2010

Vorgestern habe ich Ihnen von einem Bekannten erzählt, dessen Vorsatz, für die Flutopfer in Pakistan eine größere Summe zu spenden, durch einen unerwarteten persönlichen „Verlust“ deutlich reduziert wurde. Kurz nachdem ich diesen Blog abgeschickt hatte, fiel mir noch eine weitere Geschichte zu diesem Thema ein. So erinnerte ich mich an eine entfernte Bekannte, die von all ihren Freundinnen wegen ihres Arbeitseifers bewundert, manchmal aber insgeheim auch ein wenig beneidet wird. Und so erstaunt es nicht, dass mitunter die eine oder andere weniger wohlwollende Erzählung über meine Bekannte die Runde macht. Aber uneingeschränkte Bewunderung erntete sie für ihre großherzige Spendenfreudigkeit, die sich nach dem schrecklichen Erdbeben in Haiti Anfang dieses Jahres zeigte. So sehr hatte sie das Schicksal der Tausenden von Opfern und deren Hinterbliebenen bewegt, dass sie sich unter den Augen ihrer Kollegen spontan dazu entschloss, einen Überweisungsträger mit einer Spende in Höhe von 1.000 Euro auszufüllen. Aber weil sie wie immer im Stress war, verschwand das Papier erst einmal unter einen großen Stapel von Akten und wichtigen Papieren, wo er denn auch für die nächste Monate verblieb, während die Armen der Ärmsten auf Haiti weiter im Elend ihr Dasein fristeten.

Was den Medien allerdings schon lange keine Schlagzeile und keine „breaking news“ mehr wert war. Obgleich sich die Zahl der Traumatisierten und Obdachlosen auf der Karibikinsel  in der Zwischenzeit kaum verringert hatte, wurden keine Sondersendungen mehr zu diesem Thema ausgestrahlt. Und wenn es überhaupt noch Bilder vom Erdbebenunglück zu sehen gab, hatte man sich längst an ihre Schrecknisse gewöhnt. Und so erging es auch meiner Bekannten. Als sie endlich einmal wieder Zeit fand, ihren Schreibtisch aufzuräumen und dabei den Überweisungsträger unterm Papierstapel entdeckte, meinte sie plötzlich, 1.000 Euro seien vielleicht doch ein bisschen zu viel der Mildtätigkeit. Die Hälfte tut’s doch auch, dachte sie, zerriss den Beleg und stellte einen neuen über 500 Euro aus, den sie dann auch tatsächlich am Bankschalter einreichte. So jedenfalls erzählte es mir eine ihrer lieben Freundinnen neulich im Café.

Was war passiert? Meine gutherzige Bekannte unterlag, wie andere Menschen auch, einem ganz natürlichen Adaptionsprozess, der von dem Phänomen einer abnehmenden Sensitivität begleitet wird, die sich immer dann einstellt, wenn man für längere Zeit einem gleich bleibenden Reiz ausgesetzt ist. Ein Stimulus, der am Ende keinerlei Reaktionen mehr auslöst. Deswegen sollten wir – egal, wie sehr uns ein Ereignis schockieren mag – immer damit rechnen, dass sich die Intensität dieser Erfahrung auf Dauer nicht aufrechterhalten lässt. „Die Zeit heilt alle Wunden“, sagt man ja, und manchmal, leider, „kuriert“ sie uns auch von unserem Mitgefühl.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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