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Wahrheit – eine Frage der Wahrnehmung

am
23. Januar 2017

Angeblich leben wir ja bereits seit einigen Jahren in einem postfaktischen Zeitalter, und der Begriff Fake News, womit vor allem gezielte Desinformationen aus dem Internet gemeint sind, ist spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA in aller Munde. Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, als ob es vor der Entstehung der sozialen Netzwerke im Internet sowohl in den Medien als auch im zwischenmenschlichen Umgang die Wahrheit und nichts als die Wahrheit verlautbart worden war. So als ob wir immer nur offen und ehrlich miteinander umgegangen wären und es Lügen oder gar bewusst gestreute Falschinformationen im sogenannten faktischen Zeitalter nie gegeben hätte.

Ich selbst habe bereits bei meinen ersten Erfahrungen als Devisenhändler Anfang der 1980er Jahre erlebt, wie der permanente Einfluss von Informationen unser Entscheidungsverhalten beeinflusst. Das war zu einer Zeit, als es in den Finanzmärkten nur wenige mediale Möglichkeiten gab, Informationen zu verbreiten und zu empfangen. Verglichen mit heute lebten wir informationstechnisch gesehen in einer Wüste.

 

Fake News gibt es schon lange

Tatsächlich gab es im Handelssaal ein Telex-Gerät, das ein paar Mal am Tag klingelte, wenn es Neuigkeiten aus der Wirtschaft gab. Und als der erste Bildschirm der Nachrichtenagentur Reuters im Raum installiert wurde, betrachteten ihn viele Händler fast als so etwas wie Teufelszeug. Mit anderen Worten: Vor knapp 40 Jahren wurden während eines Handelstages nur wenige harte Fakten publiziert. Vielmehr bestand der größte Teil dessen, was man in den Finanzmärkten untereinander austauschte, aus Gerüchten. Gerüchte, die sich manchmal als wahr, ein anderes Mal jedoch als falsch herausstellten. Kamen diese Neuigkeiten von guten Händler-Freunden, denen man vor allen Dingen deshalb vertraute, weil man sie bei einem Forex-Treffen (jährliches Treffen der Devisenhändler) oder beim Besuch einer befreundeten Bank persönlich kennengelernt hatte, hatten diese naturgemäß eine höhere Wertigkeit. Als seriös galt, wen man gut zu kennen glaubte.

Wichtiger noch als Quelle und für wie seriös wir diese hielten, war jedoch die Frage, ob die Information zum bestehenden Engagement, etwa zu einer Long-Position in US-Dollar gegen D-Mark, passte. Damals wie heute wurden Nachrichten und Daten selektiv wahrgenommen. Was zur Position passte, wurde in seiner Bedeutung überschätzt, und das, was den Erfolg des Engagements hätte bedrohen können, wurde heruntergespielt oder sogar schlichtweg ignoriert. Einziger Unterschied zu heute: Damals gab es die Forschungsdisziplin der Behavioral Finance noch nicht. Und deshalb war niemandem bewusst, wie selektiv er genau wie alle anderen auch Informationen bewertete.

 

Selektive Wahrnehmung entscheidet

Und das hatte Auswirkungen auf die Gespräche mit Kollegen und befreundeten Händlern, mit denen man permanent, in erster Linie telefonisch, in Kontakt stand. Und wenn ein Engagement schiefging, dann waren natürlich oft falsche Gerüchte – gemeinhin als Ente oder Lüge bezeichnet – daran schuld, weil die einen in die Irre geführt hatten.

Heute sagt man dazu „Fake News“.

Auch damals gab es (gerade von den Verlierern) immer wieder die Forderung, man müsse die Verbreiter von Fehlinformationen aufs Schärfste bestrafen. Eine Forderung, die übrigens niemals in die Tat umgesetzt wurde. Vermutlich, weil dies in der Realität ohnehin unmöglich gewesen wäre, aber vor allen Dingen, weil es bei der Desinformation nicht nur Verlierer, sondern auch Profiteure gab.

Aber auch ein anderer wesentlicher Aspekt darf nicht außer Acht gelassen werden. Gerade aufgrund der selektiven Wahrnehmung und Weitergabe von Informationen gab es nicht die prinzipielle Unterteilung in Gut und Böse. Es gab auch nicht Quellen, die immer im Besitz der Wahrheit waren oder ausschließlich Lügen verbreiteten. Gefragt war, was gerade passte.

 

Steigende Informationsflut

Auch die Zeitungen waren damals relativ leicht einzuordnen. Wer konservativ war, konnte sich darauf verlassen, in einem bestimmten Blatt Informationen und Meinungen zu finden, die sein Weltbild bestätigten. Und wer sich eher links einordnete, wusste ganz genau, welche Tageszeitung er kaufen musste, um seine politische Ansicht gut vertreten zu fühlen. Und prinzipiell galt: Medien des politischen Gegners logen sowieso immer.

Der wesentliche Vorteil der (auch nicht) „guten, alten Zeit“ bestand jedoch darin, dass die verfügbaren Informationen für uns auch schon seinerzeit aufgrund ihrer Vielzahl sowohl wahrnehmungstechnisch als auch bei der Verarbeitung schnell zu einer gewissen Überforderung führten. Aber die Anzahl der eintreffenden Nachrichten war dennoch im Vergleich zu heute noch überschaubar, und der europäische Devisenhandel war spätestens um 17:30 Uhr beendet. Ein einziger Anruf in einer anderen Zeitzone, etwa in New York am späten Abend zu mitteleuropäischer Zeit, genügte, um sich bei einem dortigen Händler über die wichtigsten Geschehnisse des Tages zu informieren. Natürlich selektiv aufbereitet. Und manchmal konnte man in diesen Gesprächen sogar heraushören, ob der Kollege gerade am Gewinnen oder Verlieren war.

Es mag wie eine Binsenweisheit klingen, wenn man heutzutage behauptet, in den vergangenen 40 Jahren hätte sich vieles verändert. Dies gilt zumindest hinsichtlich der Informationsmenge, die natürlich nicht auf die Finanzmärkte beschränkt ist, sondern uns längst im Alltag begleitet. Auch die Verbreitungsgeschwindigkeit von neuen Nachrichten hat sich exponentiell gesteigert. Was die Standardmedien angeht, kann man auch nicht mehr zwischen links und rechts unterscheiden, weil sich die Maßstäbe und gesellschaftlichen Normen verändert und verschoben haben. Etwa derart, dass man heute statt zwischen rechts und links, progressiv oder konservativ eher zwischen Anhängern und Gegnern des Establishments unterscheiden könnte. Während die Gegner Medien, die dem Establishment nahestehen, generell als Lügenpresse verunglimpfen, sehen die Vertreter des Establishments nur zu gerne das, was von den Gegnern geäußert wird, als Verschwörungstheorie an.

Beide Pauschalisierungen sind vereinfachend, polarisierend und falsch.


Veränderter Freundschaftsbegriff

Die Welt ist nicht schwarz oder weiß, sondern hat zwischen diesen beiden Extremen eine Vielzahl von Grautönen. Viel bedeutsamer als diese Unterscheidung sind Charakter und Wesen der sogenannten Freundschaftsbeziehungen, die sich gravierend verändert haben und deren Anzahl ich dank Facebook im Gegensatz zu früher massiv steigern konnte. Von den mehr als 800 sogenannten Freunden kenne ich selbst zwar nur einen Bruchteil. Die meisten sind Freunde von Freunden, die irgendetwas miteinander – und daher auch mit mir – gemeinsam zu haben scheinen.

Auch wenn ich mittlerweile intern zwischen guten und weniger guten Freunden unterscheide, impliziert der Begriff des Freundes doch generell, dass dieser irgendwie ähnlich denkt wie ich und, was noch viel wichtiger ist, in meinen Augen als zuverlässige Quelle seriöser Informationen gilt. Leider ein Trugschluss, wie sich immer wieder herausstellt.

Facebook möchte nun eindeutige Falschmeldungen, die im Netz herumschwirren, auch mittels eines Recherchebüros („Correctiv“) herausfiltern und als solche kennzeichnen. Diese vordergründig gut gemeinte Idee hat jedoch auch wieder einen Haken. Denn die Mitarbeiter dieses Unternehmens sind natürlich auch nicht unvoreingenommen, und jeder von ihnen hat seine eigene Weltanschauung und unterliegt wie alle anderen auch der selektiven Wahrnehmung von Informationen.

Wenn man diesen Faden weiterspinnt, mag das Hauptproblem von Fake News (früher falsche Gerüchte oder Enten genannt) gar nicht einmal allein in deren Produktion liegen, sondern darin, ob deren Empfänger bereit sind, diese wahrzunehmen und zu glauben. Und wie in den Finanzmärkten gilt auch im Leben: Was zur Position (Weltanschauung) passt, wird bevorzugt angenommen und auch gerne weitergegeben. Und was nicht ins eigene Weltbild passt, wird in seiner Aussagekraft heruntergespielt, vielleicht sogar der Lächerlichkeit preisgegeben oder gleich ganz als Fake oder Lügenpresse abgetan.

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2 Kommentare
  1. Antworten

    Robert Michel

    27. Januar 2017

    Facebook hat zumindestens den Vorteil, dass jetzt wo die Leute gegenüber Fakenews senisbilierst sind, meistens jemand in den Komentaren die Sache richtig stellt.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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