Die 1-Million-Jobs-Frage
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass US-Präsident Joe Biden über ein geschicktes Händchen für die Überbringung von Steuerbotschaften verfügt. Denn gestern machten Berichte die Runde, wonach Biden für einen niedrigeren Körperschaftsteuersatz als die bisher ins Auge gefassten 28 Prozent offen sein könnte. Stattdessen soll es einen Mindeststeuersatz von 15 Prozent geben. Die Reaktion der Finanzmärkte war jedenfalls eindeutig: Die Börsianer jubelten, denn gemessen an dem zuvor gesetzten Referenzpunkt einer drastischen Körperschaftsteuererhöhung wird jede spätere Senkung als Gewinn für die Unternehmen und die Börsenkurse wahrgenommen. Dabei spielt das Motiv Bidens, der mit diesem Schritt die Unterstützung der Republikaner für ein Infrastrukturpaket gewinnen möchte, nur eine sekundäre Rolle.
Beängstigend guter Arbeitsmarkt
Dabei hatten die Akteure an den Finanzmärkten zuvor gute Nachrichten zum Arbeitsmarkt zu verdauen. Im Grunde ist es ja verrückt, wenn man (wie sich weiter unten zeigen wird) in einem solchen Fall überhaupt von „verdauen“ sprechen muss. Tatsächlich hat sich laut Bericht der Arbeitsmarktagentur ADP die Zahl der Beschäftigten in US-Unternehmen im Mai um 978 Tsd. erhöht und liegt damit weit über der Median-Erwartung der Ökonomen, die von 650 Tsd. ausgegangen waren. Viel wichtiger war allerdings in diesem Zusammenhang, dass 850 Tsd. von diesen neuen Stellen im Dienstleistungsbereich geschaffen wurden, 440 Tsd. davon allein im Freizeit- und Gastgewerbe. Zudem verteilte sich der Stellenzuwachs recht gleichmäßig auf kleine, mittelgroße bis hin zu großen Unternehmen. Da spielt es dann keine große Rolle mehr, dass auch die Erstanträge auf Arbeitslosenhilfe in der Woche zum 28. Mai zum fünften Mal hintereinander gesunken sind – wir sprechen von 385 Tsd. Anträgen.
Neuer Anker im Kopf
Nun steht heute der offizielle Arbeitsmarktbericht der Regierung für Mai zur Veröffentlichung an. Und man kann sich gut vorstellen, dass die Erwartungen der Akteure nach dem ADP-Bericht von gestern weit höher liegen werden, als die bis dahin von den Ökonomen im Mittel erwarteten 645 Tsd. neu geschaffenen Stellen im Nichtagrarbereich. Insgeheim dürften einige Akteure nun mit von einer Million Stellen rechnen, dem leicht verfügbaren Richt- bzw. Ankerwert, der gestern durch die ADP-Zahlen (978 Tsd.) gesetzt wurde. Im April-Bericht gab es allerdings eine große Diskrepanz zwischen den damals ebenfalls guten ADP-Zahlen und den von der Regierung später publizierten, enttäuschenden Zahlen. Dennoch glaubt man vielerorts, dass die Nonfarm-Payrolls nun womöglich einen besonders starken Nachholbedarf zeitigen werden.
Gift für die Aktienmärkte?
Nun aber zurück zum „Verdauen“. Sollte sich heute der positive Trend am Arbeitsmarkt bewahrheiten und die schlechten April-Zahlen eher als Ausrutscher zu werten sein, dürfte es nicht allzu lange dauern, bis neben dem Inflationsängsten auch noch das Tapering-Gespenst in den Finanzmärkten umgehen wird. Denn nach landläufiger Ansicht würde man innerhalb der Fed bei einem boomenden Arbeitsmarkt viel früher über einen Ausstieg aus der ultralockeren Geldpolitik nachdenken und letztlich auch darüber diskutieren müssen. Ob jedoch eine einzige, überdies volatile Nonfarm-Payrolls-Zahl die Mitglieder des Offenmarktausschusses tatsächlich zum Umdenken verleiten würde, sei einmal ganz dahingestellt. Entscheidend ist das, was die Marktteilnehmer befürchten. Mit anderen Worten: Sehr gute ökonomische Daten könnten sich als Gift für die Aktienmärkte erweisen.
Der US-Dollar hat gestern jedenfalls gegenüber einem Korb von Valuten mit einem deutlichen Sprung nach oben reagiert und auch dem kurzfristigen Aufwärtstrend des Euro einen empfindlichen Dämpfer versetzt, der sich im Unterschreiten von 1,2130 manifestierte. Gleichzeitig befindet sich die Gemeinschaftswährung ab sofort in einer zurzeit noch als korrektiv einzustufenden Schwächephase mit Risiko bis 1,2050/55 bzw. 1,1980/85. Um die Korrektur zu beenden, müsste nach heutiger Sicht auf der anderen Seite 1,2210 überwunden werden.
Hinweis
Die genannten Preisniveaus verlieren ab einer bestimmten Durchstoßgröße ihre Gültigkeit. Diese beträgt für EUR/USD 5 Stellen.