Gesellschaft Politik

Die große Pleite

am
28. Februar 2012

Geahnt haben wir es wohl immer schon, wie die große Pleite des Mittelstandes in den USA zustande gekommen ist. Wirklich verstanden und mit nackten Zahlen und harten Fakten vor Augen geführt wurde mir das Ganze allerdings erst, als ich ein lesenswertes neues Buch mit vielen statistischen Materialien über soziale Ungleichheit durchlas[1]. In diesem Band wird die Entwicklung des mittleren Familieneinkommens in den USA (vor Steuern) gezeigt, das sich während der vergangenen drei Dekaden seit 1971 inflationsbereinigt gerade einmal um 16 % erhöht hat – während der vergangenen zehn Jahre gab es sogar überhaupt keinen Einkommenszuwachs mehr. Wenn man bedenkt, dass während der gleichen Zeit (ebenfalls inflationsbereinigt) der Preis eines mittleren Einfamilienhauses von 129.000 auf 247.900 US-Dollar gestiegen ist, muss man sich schon fragen, wie sich die Leute einen solchen Wohlstand überhaupt leisten konnten.

Richtig schwindlig wurde mir, als ich in diesem Buch den Beitrag von Kevin T. Leicht las, aus dem hervorging, dass die Stundenlöhne der Beschäftigten (außerhalb der Landwirtschaft) zwischen 1988 und 2007 praktisch nicht gestiegen sind, wohl aber deren Produktivität. Natürlich kann man nicht erwarten, dass die Stundenlöhne mit der Produktivität zu 100 Prozent Schritt halten. Dann hätte sich der durchschnittliche Stundenlohn während dieses Zeitraums von 11,37 auf 16,51 USD erhöhen müssen. Aber selbst eine Beteiligung der Arbeitnehmer an einem Viertel ihrer Produktivität hätte immerhin zu einem Anstieg des realen mittleren Stundenlohns um 9 Prozent geführt.

Ich möchte an dieser Stelle gar nicht einmal der Frage nachgehen, wer sich dieses Geld in die eigene Tasche gesteckt hat. Die Antwort darauf ist hinlänglich bekannt und lässt sich besonders deutlich in den Statistiken zum oberen Promille der Einkommensverteilung der US-Bevölkerung[2] ablesen. Aber es gibt einem schon zu denken, wie es den USA gelingen konnte, sich zu einer Zeit, da die meisten Amerikaner real nicht mehr Geld in der Tasche hatten, so ausschließlich auf den privaten Verbrauch als Konjunkturmaschine zu verlassen.

Natürlich kann man einwenden, dass die Beschäftigten vielleicht einfach mehr gearbeitet haben, um die stagnierenden Reallöhne auszugleichen. Sei es, dass die Zahl der täglichen Arbeitsstunden erhöht wurde oder der Lebenspartner sich stärker am Broterwerb beteiligt hat[3]. Wenn man jedoch bedenkt, dass das Wettrüsten um Statussymbole, also Positionsgüter, während der vergangenen Jahrzehnte nicht nachgelassen, sondern sogar noch an Geschwindigkeit gewonnen hat, ist es nicht verwunderlich, wenn zur Finanzierung des Eigenheims neben allen anderen gestiegenen Kosten Ersparnisse angegriffen und Kredite aufgenommen werden mussten. Kredite, die bekanntlich vor allem auf hochgerechneten Immobilienwerten beruhten.

Viel schwerer wiegt jedoch der Verlust an Lebensqualität, der in Form von verlängerten Arbeitszeiten, unsicheren Arbeitsbedingungen und manchmal gar schlechter bezahlten Jobs hingenommen wurde, nur um ja nicht beim sozialen Vergleich hinten runter zu fallen. Anders ausgedrückt: Um den Lebensstandard zu halten, mussten Nicht-Positionsgüter wie Wohlbefinden, Erholung etc., deren Mangel man erst auf lange Sicht bemerkt, gegen Positionsgüter eingetauscht werden, an die man sich außerdem ja noch ziemlich schnell gewöhnt.

Was ist übrig geblieben? Durch die drastisch gesunkenen Hauspreise, die gestiegenen Pleiten, sind viele Menschen nicht nur ihrer Positionsgüter beraubt worden. Viel schwerer wiegt die verlorene Zeit, die man mit der Familie oder mit Freunden hätte verbringen können, die fehlende Erholung, um einem Burnout oder Herzinfarkt vorzubeugen, die im Alltagsstress zerrüttete Ehe, die zerbrochene Partnerschaft. All das kann einem niemand mehr zurückbringen. Nicht einmal dadurch, dass man denjenigen, die bei der ganzen Geschichte überproportional gewonnen haben, alles wieder abnehmen würde.



[1] Porter, Katherine, Ed. (2012): Broke – How Debt Bankrupts the Middle Class, Stanford University Press

[3] Leicht, Kevin T. ebenda: Borrowing to the Brink, Consumer Debt in America

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8 Kommentare
  1. Antworten

    Daniel

    28. Februar 2012

    Ein sehr schöner Artikel, Herr Goldberg!

    Kompliment, …ja die Verarmung der Mittelschicht, der auch zeitgleich ein prozentual bedeutender Teil der Bevölkerung angehört, ist nicht nur in Amerika sondern auch in Europa (außer eventuell Skandinavien) allgegenwertig! Die Sucht nach immer größer, immer mehr, immer schneller ist ungebrochen und wird uns durch die Medien im besonderen durch Werbung tagtäglich eingeimpft! Interessant wäre in wie weit Waren von Guthaben b.z.w / oder Krediten erworben wurden?

    Solange die Waren/Güter b.z.w. vorhandenen materiellen Werte + die Guthaben die Schuldenlast in der Gesammtsumme übersteigen ist ja noch alles im Lot! Ist dem nicht so…, wirds eben eng!!!

    Und der Trend wird weiter gehen, außer es wachen mehr und mehr der durchnittlichen Einkommensschichten, durch die in Europa allgegenwärtige Schuldenkriese, auf…, aber wie das Leben so ist, kann man auf diesen Tag unter umständen lange warten.

    Mfg Daniel

  2. Antworten

    Frank Meyer

    28. Februar 2012

    Großartige Verlust-Analyse ohne mathematische Minuszeichen sondern unter Betrachtung des Faktors Zeit. Zeit heilt machmal Wunden. Manchmal kommt sie zurück und reißt wie wieder auf.

  3. Antworten

    Schmidt

    28. Februar 2012

    Hier ein ausführlicherer Kommentar zum Beitrag:
    http://www.kompetenznetz-mittelstand.de/blogs/die-grosse-pleite

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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