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Was Defizitsünder und Kindergarten-Eltern gemeinsam haben

am
29. Oktober 2010

Während der vergangenen Wochen haben wir immer wieder lesen können, wie man vor allem aus deutscher Sicht innerhalb der EU den Defizitsündern an den Kragen gehen möchte. Da war von automatisch greifenden Regeln die Rede, wie etwa absurd erscheinende Geldstrafen, die letztlich nur zu einer Erhöhung bereits bestehender Schulden führen würden. Bis hin zum Verlust des Stimmrechts innerhalb des EU-Rats. Nein, Letzteres wäre nicht nur undemokratisch, sondern gleichbedeutend mit dem Entzug der bürgerlichen Ehrenrechte bei einer kriminellen Privatperson.1

Letztlich sind all diese Vorstöße nichts anderes als der Versuch, die verloren gegangene Kontrolle in der causa Europa zurückzuerlangen. Und dafür scheint die Erstellung von starren Regeln und härteren Strafen für viele Politiker ein probates Mittel. Ob man damit gegen die nächste Krise besser gewappnet sein wird, darf jedoch bezweifelt werden. Psychologisch jedoch vermitteln Automatismen Politikern wie Bürgern, die Zukunft besser unter Kontrolle zu haben. Wenn das nicht nur eine Illusion ist.

Normen sind eine gute Sache, solange sich jemand daran hält. Die Praxis zeigt indes: Bußgelder führen nicht zwingend auch zu weniger Verstößen. Für den Geschäftsmann, der mit 200 km/h über die Autobahn rast, ist es ein Rechenspiel: Zahlt er lieber die Strafe für zu schnelles Fahren oder lässt er stattdessen einen wichtigen Termin platzen? Ist die berufstätige Mutter pünktlich bei der Tagesstätte oder zahlt sie lieber die Verspätungsgebühr von 10 EUR und hängt noch eine Viertelstunde dran, um wichtige Korrespondenz zu erledigen? Ähnlich verhält es sich mit den Defizitsündern innerhalb der EU: Sie wägen lediglich die nationalen Interessen gegen die Kosten eines Bußgeldes ab – den Schuldenberg macht das nicht kleiner, die europäischen Ungleichgewichte auch nicht.

Trotzdem lässt sich aus dem Kindergartenbeispiel etwas lernen: Es gilt schon immer vielerorts die (soziale) Norm, dass Kinder bis zu einer bestimmten Uhrzeit am Nachmittag abgeholt werden müssen – das Gros der Eltern hält sich auch daran. Eine wissenschaftliche Studie brachte jedoch ans Tageslicht, dass mit der Einführung von Strafen die Verspätungen der Eltern deutlich zunahmen – durch Bezahlung einer Gebühr hatten sie nämlich weniger Schuldgefühle gegen die Norm zu verstoßen.2 Was also tun in Europa? Die Politiker sollten sich auf glaubwürdige, transparente Normen bzw. Richtlinien einigen. Ein Verstoß würde zwar nicht mit Geldstrafen geahndet werden, die lediglich gegen nationale Interessen abgewogen würden. Dank der Transparenz bestünde aber zumindest die Chance, dass die internationale Investorengemeinde die Ratingagenturen ihre Nase rümpfen – das wäre wohl die einzig wirksame Strafe.


1Die bürgerlichen Ehrenrechte, also auch das Wahlrecht, wurden in Deutschland bis 1969 bei Verhängung einer Freiheitsstrafe entzogen. Heute geschieht dies nur noch in Ausnahmefällen.

2Gneezy, U. & Rustichini, A. (2000): A Fine is a Price, Journal of Legal Studies, Vol. 24

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1 Kommentar
  1. Antworten

    A.Kawa

    1. November 2010

    Sorry, liberum veto:

    1) Wenn Deutschland seine Finanzen nicht in Griff hätte – würden die Politiker ihren Bugget so stemmen, daß aus sog. Notlügen eine Aussage entstehen würde (selbst so eine, wie wir sie schon mal hatten. – In diesem Jahr machen wir überhaupt keinen Bugget.)

    2) Ich sehe schon die faulen Tomaten: wozu tut Eure Nation sich zum Märtyrer, wenn nahezu 80% der Welt Bilanzen frisiert, durch kurzfristige Switchs die Lage beschönigt, nach Strich und Faden die Bürger bescheißt,
    und diese Bürger lediglich gegenhalten? Mit selben dreisten Lügen (Schwarzarbeit, Geschäfte im Hinterhof usw.? )

    Es tut mir sehr Leid. Wenn Jemand behauptet und sich als Beispiel stellt, der Primus eben, alles richtig zu machen – kann er keinesfalls erwarten, daß alle anderen dieser Platitüde folgen. Halbe Welt hat schon Erfahrung mit Totalverlust gemacht, nach dem zweiten Weltkrieg. Die Deutschen noch nicht. Es ist doch glasklar, daß Spanien, Portugal, Griechenland und der gesamte Rest nie einen Euro Netto zurückzahlen wird. Wieso stecken also deutsche Banken, Versicherer und der gesamte bescheuerte Rest der Finanzbranche Abertausende von Euros in Anlagen in Spanien, Griechenland, Irland und Portugal?

    Logischerweise nur aus dem einfachen Grund, weil diese Länder hohe Zinsen versprochen haben. Gemäß der Maxime, daß je mehr % eine Anlage abwirft desto riskante ist sie, habe man deutsche Anleger in LV’s, Solaranlagen usw. getrieben weil man alles mit dem Prädikat sicherte – der Staat steht dahinter!

    Die Deutschen sind die dümmsten??? Der Spruch stammt nicht von mir!
    Aber da ist was drin!

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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