Behavioral Living Politik

Schöne neue Welt (von D. Cameron)

am
19. November 2010

Großbritanniens Premierminister hat Großes vor. Denn David Cameron zieht mit einer Idee durchs Land, die für Aufsehen sorgt: Es handelt sich um das Projekt einer „Big Society“, einer auf gemeinschaftlichem Engagement fürs Allgemeinwohl gegründeten Bürger-Gesellschaft. Genau genommen möchte der Premier nichts Geringeres, als dass die Menschen, jeder Einzelne, jede Familie oder jegliche Gemeinschaft wie Vereine oder Initiativen künftig mehr Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen und sich weniger auf den Staat verlassen. So ist Cameron davon überzeugt, man könne die Verwaltung der Verkehrsbetriebe, Büchereien und Postämter ruhig in die Hände vertrauenswürdiger lokaler Gruppen legen. Etwa nach dem Vorbild der Amish, einer religiösen Glaubensgemeinschaft in den USA, die keine Sozialabgaben leisten müssen, aber auch keine entsprechenden Leistungen in Anspruch nehmen – seit Generationen kümmern sie sich selbst um ihre kranken und alten Gemeindemitglieder.

Natürlich kann man die Briten nicht mit dieser Glaubensgemeinschaft vergleichen. Zumal die Steuerbefreiung der Amish auf deren religiöse Grundsätze zurückzuführen ist. Weil sie keine Gelder von anderen Körperschaften annehmen dürfen, ist es selbstverständlich für sie, dass sie jene Mitbrüder und -schwestern in Eigenregie versorgen, die das selbst nicht können. In Großbritannien, wo sich Eltern um die begehrten Plätze an renommierten Schulen prügeln, ist man indes von so einem sozialen Verhalten weit entfernt. Auch bei uns in Deutschland dürfte dies nicht anders sein.

Schmarotzertum – oder allein auch nur die Angst davor – würden bereits jede Zusammenarbeit in den Gemeinden im Keim ersticken – selbst wenn ein gemeinsames Projekt so große Vorteile böte, dass die Kosten im Verhältnis dazu gering ausfielen. Man stelle sich nur einmal vor, eine Gemeinde wollte Brachland in einen Spielplatz umwandeln. Bereits bei der Festlegung, welcher Mitbürger welchen Beitrag dafür zu leisten hätte, gäbe es doch schon jede Menge Ärger und Konflikte. Ganz zu schweigen davon, was man tun würde, wenn sich jemand weigerte, seinen Teil beizusteuern. Und wie wären Mitglieder, die die Gemeinde verlassen, zu entschädigen, was müssten neu Zugezogene bezahlen? All dies sind schwer zu beantwortende Fragen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Briten laut einer Studie sogar bereit wäre, Geld auszugeben, nur damit jemand anderes Geld verliert.[1] Das klingt nicht gerade nach Gemeinsinn.

David Cameron dürfte also einen langen Weg zurückzulegen haben, bis er den Traum seiner „Big Society“ verwirklichen kann. Zumal es genügend gesellschaftliche Bereiche gibt, in denen starker Konkurrenzdruck herrscht, ja, wo Konkurrenz unter Einzelnen als Stimulans zur Steigerung von Produktivität und Effizienz gesehen wird und Wettbewerb stets vor Solidarität geht.


[1] Zizzo, D. J. & Oswald, A. (2001): Are People Willing to Pay to Reduce Others’ Incomes? Annales d’Economie et de Statistique, No. 63-34, S. 39-65

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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