Behavioral Living

Referenzpunkt-Roulette

am
13. April 2012

Dass jemand Lotto spielt, um auf einen Schlag reich zu werden, kann ich noch irgendwo verstehen. Auch wenn der Erwartungswert dieses Spieles negativ ist und deshalb rational denkende Menschen vom Spielen abhalten sollte, kaufen sich Millionen von Bundesbürgern jedes Wochenende, manchmal auch mittwochs, ein Stück von diesem Traum. Ein Umstand, der vor allen Dingen der Tatsache geschuldet ist, dass die extrem geringe Gewinnchance auf die höchste Gewinnklasse (sechs Richtige plus Super-Zahl) vergrößert wahrgenommen wird.

Warum allerdings Menschen ins Spielcasino gehen, in der Hoffnung, den Roulettetisch am Abend als Sieger zu verlassen, ist mir indes immer ein Rätsel geblieben. Zwar sind die Gewinnchancen bei diesem Spiel deutlich besser als beim Zahlenlotto, weil der Hausvorteil der Casinos vergleichsweise gering ist. Dennoch ist der Erwartungswert beim Roulette ebenfalls negativ und das Risiko, bei langen Spielserien am Ende mit weniger Geld als zu Beginn dazustehen, relativ hoch. Vor allen Dingen wenn man viele solcher Besuche tätigt. Denn von den einzelnen Wahrnehmungsepisoden werden vor allem die erfolgreichen in der Erinnerung gespeichert. So gesehen erlangt der Satz „Neues Spiel, neues Glück“ eine zusätzliche Bedeutung.

Jetzt werden mir natürlich gleich all diejenigen heftig widersprechen, die möglicherweise ein System entwickelt haben, wie man beim Roulette langfristig Geld verdienen kann. Ich bin, offen gesagt, noch nicht dahinter gekommen, wie das geht. Und damit geht es mir vermutlich wie den meisten anderen Menschen. Was sie aber trotz ihrer Verlustaversion nicht davon abzuhalten scheint, dem Spielcasino immer wieder einen Besuch abzustatten.

Auch Wissenschaftler haben sich mit diesem seltsamen Verhalten beschäftigt.[1] Denn man wird am Roulettetisch nicht schlagartig mit einem riesengroßen Hebel reich, sondern selbst bei einer Wette auf eine einzige Zahl ist doch einiges Geld mitzubringen, wenn der 35-fache Einsatz im Gewinnfall zur Auszahlung kommt und richtig Spaß machen soll. Vielleicht mag es das Ambiente von Spielcasinos sein, das plötzlich zu erhöhten Einsätzen reizt, weil man mit zu den Spielern gehören möchte, die stapelweise Jetons auf dem Spieltisch platzieren. Oder zu den Reichen, die im Restaurant des Casinos gerade Champagner und Hummer genossen haben mögen.

Dennoch: Fakt ist, dass die meisten Menschen nicht gewillt sind, eine Wette zu akzeptieren, bei der man mit gleich hoher Chance entweder einen Geldbetrag gewinnen oder verlieren kann.[2] Trotzdem sieht man in den meisten Spielcasinos viele Spieler, die bereit sind, beim Roulette auf Rot oder Schwarz zu setzen. Und das auch noch mehrere Male hintereinander. Jetzt könnte man natürlich argumentieren, dass die Verlustaversion für ganz kleine Beträge nicht gilt. Etwa für Einsätze, die unter einem Euro liegen. Weil ein solcher Betrag verglichen mit dem verfügbaren Einkommen gering zu sein scheint. Und genau auf diesen Kontext kommt es an. Und so wundert es nicht, dass in vielen Casinos die Spieltische mit hohen Einsatzlimits bestmöglich platziert sind. Denn im Verhältnis zu diesen hohen Beträgen kommt den Spielern der Mindesteinsatz am Tisch relativ niedrig vor, wodurch sich ihre Spielbereitschaft erhöht. Im Zweifel geht man sogar zum Nachbartisch, wo man mit noch kleineren Einsätzen zocken kann. Hat man dann erst einmal mit dem Spielen begonnen, sitzt man aber eigentlich schon in der Falle, vor allem wenn man nach einer Serie kleinerer Verluste diese unbedingt wieder wettmachen möchte. Etwa durch einen höheren Einsatz. Denn der Referenzpunkt ist dann längst nicht mehr das Tischlimit, sondern der eigene Geldbeutel.



[1] Simmons, Joseph P., Novemsky, Nathan (2009): From Loss Aversion to Loss Acceptance: Context Effects on Loss Aversion in Risky Choice, Working Paper

[2] zum Beispiel, eine 50-Prozent-Chance, zehn Euro zu gewinnen, verbunden mit einem 50-prozentigen Risiko, zehn Euro zu verlieren)

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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