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Referenzpunkt Jesus

am
21. August 2012

Endlich gab es nach der langen Sommerpause wieder einen „Tatort“. Und anschließend gönnte ich mir dann auch noch Günther Jauchs Talk-Runde, die eine angeregte Debatte über Reiche, Schwarzgeld und mangelnde Steuergerechtigkeit führte. Ein Spiegel-Kommentator kritisierte an diesem Gespräch, dass keiner der Gäste, nicht einmal versuchsweise, in der Lage gewesen sei, moralische Maßstäbe zu formulieren, „an denen sich solch eine Diskussion orientieren müsste“. Eine Kritik, die ich allerdings nicht zutreffend finde, weil zumindest Katja Kipping von der Linkspartei eine Antwort auf die Frage parat hatte, ab welchem Einkommen denn eigentlich Reichtum beginne. Sie zögerte nur ganz kurz, bis sie exakt den Betrag nannte, den viele von uns als die Schwelle zum Reichtum ansehen würden: ein Vermögen von mehr als einer Million Euro. Das ist ein leicht verfügbarer Referenzpunkt, der den Vorteil hat, schnell zur Hand zu sein, egal, ob diese Summe nun in Euro, Dollar oder Schweizer Franken oder, wie früher, in D-Mark gehandelt wird. Der Nachteil besteht allerdings darin, dass solche runden Zahlen nicht zwangsläufig korrekt sein müssen. Zumal sowieso noch nicht geklärt ist, wo die Grenze zwischen Reichtum und Überfluss zu ziehen ist. Denn immer wenn irgendjemand „Das ist zu viel!““ ruft, kommt die Moral samt Empörung der Massen ins Spiel. Da muss nur einer – und auch hier muss ich Frau Kipling zitieren – mehr als 40.000 Euro im Monat verdienen. Dagegen gibt es nur eines: einen Steuersatz von 100 Prozent. Das kapiert jeder.

 

Bischöfe in die Touristenklasse?

Um ein „Zu viel“ geht es auch beim Fall des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst, der nach Spiegel-Informationen First Class nach Bangalore flog, um im Steinbruch arbeitenden Kindern persönlich seines Mitgefühls und Beistands zu versichern. Klar, dass bei Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses die Referenzpunkte für unmoralisches Handeln besonders schnell zur Hand sind. Als Bischof trifft es einen doppelt hart: In dieser Liga gelten Jesus oder der Heilige Franz von Assisi als unumstrittener Maßstab für vorbildliches Handeln. Dagegen sieht man in den Augen von Moral-Aposteln ziemlich schnell ziemlich schlecht aus.  Aber es wirkt schon wie ein schroffer Widerspruch in sich, wenn man erster Klasse zur Besichtigung des Elends anreist. Da hilft auch nicht der Hinweis auf die internen Reisebestimmungen der Deutschen Bischofskonferenz. Oder die Rechtfertigungsversuche, das Upgrade in die erste Klasse sei mit privaten Bonusmeilen bezahlt worden. Auch das Argument, seine Exzellenz müsse den neunstündigen Flug zum Schlafen nutzen, um seine Leistungsfähigkeit als Oberhirte für so viele bedürftige Schäfchen zu erhalten, klingt nicht wirklich überzeugend. Als ob man nicht auch in der Business Class den Sitz zum Ruhen nach hinten stellen könnte. Aber auch da hätten sich vermutlich noch jede Menge Leute aufgeregt, denn es gibt ja immer noch als weiteren Referenzpunkt den Entwicklungshelfer, der sich in einem Internetforum meldete, um zu berichten, dass er zu einem humanitären Einsatz in der Eco, aber eben nur für 800 Euro zur selben Destination nach Indien fliege. Bitter, aber wahr ist allerdings, dass wohl auch niemand Tebartz-van Elst dafür loben würde, wenn er sich mit seiner langen Soutane auf die unbequemen Sitze in der Bretterklasse gezwängt hätte.

Offenbar gelten für den Limburger Bischof andere Normen als für den Rest der Gesellschaft. Sonst hätte ein Vertreter der Kirche doch nicht so ins Fettnäpfchen treten können. Ja, es hat den Anschein, als habe Tebartz-van Elst  jede Tuchfühlung mit den gesellschaftlichen Maßstäben verloren, weil sich seine eigenen „lokalen“ Normen mit der Zeit langsam und unbemerkt von dem entfernt haben, was unter Laien als anständig gilt.

 

Moral ist relativ

Natürlich liegen die meisten Verfehlungen, wie man sie Politikern oder anderen Prominenten gerne anlastet, jenseits dessen, was sich ein Normalbürger leisten kann. Aber auch dort sind Interessenskonflikte und kleinere Vergehen weit verbreitet. Aber wer regt sich schon darüber auf, wenn ein Bekannter sich damit rühmt, wie viele Praktikanten er kostenlos in seinem Betrieb schuften lässt, oder wenn Freunde verschämt grinsend erzählen, dass sie, um den gemeinsamen Opernbesuch nicht platzen zu lassen, ihrem Au-pair kurzerhand Ausgehverbot erteilt hätten. Würde man einen Freund anzeigen, weil er nach einer Party leicht angetrunken mit dem Auto nach Hause gefahren ist? Eine protestantische Kollegin des Limburger Bischofs hat deshalb ihr Amt aufgegeben. Moral ist also offenbar wie die Bewertung von Gewinnen und Verlusten relativ und daher abhängig von Referenzpunkten, die jedoch oft willkürlich gewählt scheinen. Und die künstliche Aufregung, die immer dann um sich greift, wenn jemandem ein Abweichen von gesellschaftlichen Standards nachgewiesen werden kann, hat vor allen Dingen eine Zweck: Sie beruhigt unser Gewissen und lenkt uns von unseren eigenen  kleinen Fehltritten und Verfehlungen ab, damit wir auch morgen wieder unbekümmert und unbemerkt gegen gesellschaftliche Normen verstoßen können. Dabei sollten wir es vielleicht doch mit Franz von Assisi halten, der einmal gesagt haben soll: „Selig der Mensch, der den Nächsten in seiner Unzulänglichkeit genauso erträgt, wie er ertragen werden möchte“.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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