Behavioral Living

Preis der Freiheit

am
13. Juni 2012

Unlängst wurde ich Zeuge eines waghalsigen Manövers, als auf einem Zebrastreifen ein Fahrradfahrer zwischen zwei kleinen Kindern hindurchpreschte – ohne Rücksicht auf Verluste. Nicht auszudenken, wenn eines dieser Kinder auch nur einen einzigen, winzigen Ausfallschritt zur Seite gemacht hätte. Diese und viele andere Verkehrsverstöße durch Radfahrer lassen sich in Frankfurt am Main, vermutlich aber auch in vielen anderen Städten, zu jeder Zeit und an jedem Ort beobachten.

Ich selbst bewege mich ebenfalls (bei schönem Wetter) als Fahrradfahrer durch die Stadt. Vielleicht weil einem das Radeln in der Großstadt ein Gefühl von Flexibilität und Unabhängigkeit vermittelt. Und weil es zudem noch als gesund und umweltfreundlich gilt, hat man sich in einigen deutschen Städten etwas Besonderes einfallen lassen, um den Umstieg von vier auf zwei Räder noch zu befördern. So auch in Frankfurt, wo in den vergangenen Jahren nicht nur viele neue Radwege ausgewiesen wurden, sondern sich Fußgänger und Radfahrer auf vielen Wegen sogar miteinander arrangieren müssen. Nicht selten unter Einsatz ihrer körperlichen Unversehrtheit. Zwar weist eine unterschiedliche Färbung des Pflasters darauf hin, wem welche Spur auf dem Trottoir gehört. Aber die meisten Radfahrer scheinen farbenblind zu sein. Vielerorts darf man in Frankfurt auch gegen die Verkehrsrichtung in zum Teil sehr engen Einbahnstraßen radeln. Aber eben nicht immer. Da hat man aber offenbar die Rechnung nicht mit dem Menschen gemacht, der sich gerade im Straßenverkehr, wo oft blitzschnelle Entscheidungen erforderlich sind, bestimmter Schemata bedient, um auch komplexe Sachverhalte sofort überblicken zu können.

 

Gelernte Sorglosigkeit

Andererseits braucht man sich bei all diesen Sonderrechten nicht zu wundern, wenn sich Radfahrer als besonders schutzwürdige Spezies nicht an die Verkehrsregeln halten und zumindest in Frankfurt an einem erheblichen Anteil aller Unfälle im Stadtgebiet beteiligt sind. Allein für das Jahr 2011 weist die Statistik 1.060 Unfälle mit Fahrradfahrern aus; und interessanterweise waren gut ein Viertel der Verunglückten auf dem Fahrradweg in der falschen Richtung unterwegs[1]. In Berlin ist im vergangenen Jahr die Zahl der Verkehrsunfälle mit Radfahrern sogar um mehr als 19 Prozent gestiegen[2]. Dafür kann man wohl nicht nur eine gelernte Sorglosigkeit bei dieser Gruppe von Verkehrsteilnehmern verantwortlich machen. Vielmehr fühlen sich Radfahrer offenbar auch besonders sicher. Vielleicht weil sie overconfident sind oder aber weil die Gefahr, erwischt zu werden, ohnehin ziemlich gering zu sein scheint. Denn wer nicht identifiziert werden kann, braucht bei Regelverstößen auch keine Strafverfolgung zu befürchten.

 

Vorschlag aus Tokio

Dieser Tendenz, sich im Extremfall bei Unfällen möglichst unerkannt aus dem Staub zu machen und  alte, zerbeulte und verbogene Vehikel einfach an der nächstbesten Straßenecke liegen zu lassen, will die Stadt Tokio jetzt offenbar ein Ende machen: Eine Arbeitsgruppe schlug nicht nur vor, strengere Verhaltensregeln für Radfahrer zu erlassen, sondern auch die Räder mit Nummernschildern auszustatten. Vorrangiges Ziel war dabei, die Zahl der Unfälle mit Fußgängern zu verringern, grundsätzlich aber wollte man vor allem an das Verantwortungsgefühl dieser Verkehrsteilnehmer appellieren[3]. Denn auch hier scheint zu gelten, was wohl für alle Bereiche der Gesellschaft gilt: Ohne Regeln geht es nicht.



[1] Frankfurter Rundschau online vom 4.4.2012, Am Ratsweg kracht’s besonders häufig, http://www.fr-online.de/frankfurt/unfallstatistik-frankfurt-2011-am-ratsweg-kracht-s-besonders-haeufig,1472798,14675096.html

 

[2] Berliner Morgenpost online vom 16.4.2012, Radfahrer leben dienstags in Mitte besonders gefährlich, http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article106189518/Radfahrer-leben-dienstags-in-Mitte-besonders-gefaehrlich.html

 

[3] Hierzu gibt es auch eine nette Halloween Studie: Diener, Edward et al. Effects of Deindividuation Variables on Stealing Among Halloween Trick-or-Treaters, Journal of Personality and Social Psychology, 1976, Vol. 33, No. 2

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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