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19. August 2013

Auch in diesem Jahr konnte ich es nicht lassen: Ich bin mit meiner Familie wieder nach Venedig, meiner europäischen Lieblingsstadt, gereist. Trotz der üblichen Vorbehalte, die ich bei dieser Gelegenheit immer wieder von Freunden zu hören bekomme. Zu heiß sei es um diese Jahreszeit, ganz zu schweigen von den vielen Touristen und dem fauligen Gestank, der sich regelmäßig im Hochsommer über der Lagune breitmache – allesamt unbegründete Vorurteile. Venedig ist selbst im Juli fantastisch, und die 35 Grad im Schatten sind dort wahrlich besser auszuhalten als in Frankfurt.

Venedig ist aber auch die Stadt der Warteschlangen. Dies bekamen wir etwa bei unseren Besuch der Biennale zu spüren, wo ich geschlagene 45 Minuten vor dem Kassenhäuschen ausharren musste, bis ich endlich mein Familienticket kaufen durfte. Eine Eintrittskarte für 50 Euro, die wie bereits schon vor zwei Jahren nur für Familien mit maximal zwei Kindern gilt. Wir aber haben nun einmal drei Kinder, so dass noch einmal 14 Euro extra fällig waren. Aber darüber habe ich mich schon gar nicht mehr aufgeregt, zumal ich ja gelernt habe, für dieses Extra-Ticket, also für einen zusätzlichen „Verlust“ kein separates mentales Konto einzurichten.

Dafür hatte ich ein Erlebnis der anderen Art auf dem Lido, der Venedig vorgelagerten Insel, die einst als mondänes Seebad mit Luxushotels galt und die wir jeden Nachmittag zum Entspannen und Abkühlen im Meer aufsuchten. Und da wir uns bereits seit einigen Jahren angewöhnt haben, in Venedig überwiegend selbst zu kochen, statt essen zu gehen, war auf dem Rückweg vom Strand ein Besuch im Supermarkt nicht zu vermeiden. Dieser erfreut sich anscheinend nicht nur unter Touristen großer Beliebtheit – jeden Abend ist der Laden proppenvoll. Natürlich mit entsprechend langen Schlangen an der Kasse. So reihten auch meine Frau und ich uns geduldig ein, während die Kinder noch nach ein paar Getränken und anderen Erfrischungen suchten – vor uns lagen mindestens 20 lange Minuten. Aber wir waren ja im Urlaub und hatten Zeit.

Die Schlange quälte sich Stück für Stück langsam vorwärts, bis auch wir uns der letzten Kurve vor der Kasse nährten. Alles blieb zivil, und die ungeschriebenen Gesetze des Schlangestehens wurden stillschweigend eingehalten. Niemand drückte, niemand drängelte. Als plötzlich ein Rollstuhl, in dem eine Dame zusammengekrümmt saß und an dessen Rückenlehne ein prall mit Lebensmitteln gefülltes Netz hing, von einem vornehm gekleideten Herrn, offensichtlich der dazu gehörige Ehemann, ohne Rücksicht auf Verluste in eine kleine Lücke manövriert wurde, die sich beim Aufrücken vor unserem Vordermann kurzzeitig aufgetan haben musste. Das Vehikel schoss geradezu nach vorne, so dass einem nur noch übrig blieb, die eigenen Füße in Sicherheit zu bringen, bevor sie überrollt wurden. Was den Lenker dieses Gefährts jedoch nicht dazu bewog, ein paar Worte des Bedauerns oder der Entschuldigung zu finden. Im Gegenteil: Er wies nur mit der Schulter auf seine kranke Frau, als sei deren – sicher schweres – Schicksal Erklärung und Rechtfertigung genug für seinen rasanten Fahrstil.

 

Wenn Normen aufeinanderprallen

Natürlich bin auch ich dazu erzogen worden, mich behinderten Menschen gegenüber zuvorkommend zu zeigen und ihnen, wenn nötig, auch hilfreich zur Seite zu stehen. Aber das ebenso siegesgewisse wie süffisante Grinsen, das für einen ganz kurzen Augenblick über das verhärmte Gesicht der Dame im Rollstuhl huschte, war weder mir noch den Anderen in der Schlange entgangen. Sprachlos sah ich meinen Hintermann an. Auch dessen Augen drückten nur eine Mischung aus völliger Überraschung und gleichzeitiger Empörung aus. Denn hatte ich zunächst für einen Augenblick geglaubt, es handele sich hier um einen Notfall, so war jetzt offensichtlich, dass dieses Paar sich nur die Poleposition an der Kasse erobern wollte. Aber ein kurzer Blickkontakt mit den anderen Wartenden genügte, so als würden wir uns gegenseitig rückversichern, dass wir gemeinsam Stillschweigen bewahren wollten und niemand seinem Unmut verbal Luft verschaffen würde. Vielleicht waren wir uns alle ja auch nicht ganz sicher, ob das in dieser Situation angemessen gewesen wäre. Also sahen wir stumm zu, wie der Herr in aller Seelenruhe seine Waren auf das Laufband legte, bezahlte und seine Einkäufe anschließend umständlich wieder im Netz verstaute. Während seine kranke Frau still dasaß und ins Leere starrte. Uns anderen im Supermarkt würdigte sie keines Blickes mehr.

Was aber hatte sich da mental bei mir abgespielt? Durch das Aufeinanderprallen zweier starker sozialer Normen war kognitive Dissonanz entstanden, die ich dadurch beseitigen konnte, dass ich die ganze Geschichte im Geiste zu einem „Notfall“ umformte. Doch als der Herr ohne Eile seine Waren auf das Laufband legte und am Ende auch noch gemütlich den Rollstuhl in Richtung Ausgang schob, blieb nur noch, den Vorfall einfach zu ignorieren.

      

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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