Politik

Meinungsverschiedenheiten

am
24. November 2010

Man müsse den Widerspruch willkommen heißen, schrieb der Mathematik-Dozent Chandler Davis im Jahre 1959[1]. Er meinte damit den ernsthaften, systematischen und missionarischen Dissens, weniger aber den spielerischen, sporadischen oder gar anbiedernden Widerspruch. So sehr sollte man Meinungsverschiedenheiten schätzen, dass man sie nicht nur unermüdlich hervorbringen, sondern sich auch dagegen wehren müsse, wenn andere sie zu zerstören drohten. Davis’ Appell blieb ungehört.

Der Professor verlor seine Dozentenstelle an der University of Michigan, nachdem er zuvor eine Gefängnisstrafe verbüßt hatte. Grund: Er hatte sich rundweg geweigert, mit dem Ausschuss des Repräsentantenhauses zur Untersuchung unamerikanischer Aktivitäten zusammenzuarbeiten. Davis hatte nämlich das Recht des Staates bestritten, ihn zu Erklärungen über seine politischen Überzeugungen zwingen zu können. Stattdessen berief er sich auf das Recht der Redefreiheit, das in der amerikanischen Verfassung festgeschrieben ist. Davis wurde wegen Missachtung des Kongresses verurteilt – ein Revisionsantrag wurde vom Obersten Gerichtshof nicht einmal zur Entscheidung angenommen.

Die Panikmache vor Kommunisten in den USA der 1950er ist ein klassisches Beispiel dafür, was geschehen kann, wenn ein Verhaltensmuster, das sich normalerweise nur in kleinen Gruppen beobachten lässt, mit einem Male auf eine ganze Nation übergreift. Die Rede ist vom Phänomen des Groupthink. Es zeigt sich vor allem dann, wenn Gruppen infolge äußeren Drucks oder einer Bedrohung – sei sie real oder auch nur subjektiv empfunden – sehr stark zusammenrücken (Kohäsion), Konflikte zu minimieren versuchen und stark nach Übereinstimmung streben. Ein typisches Groupthink-Symptom ist die Selbstzensur. So ist es in solchen Gruppen üblich, auf Abweichler, die eine starke Meinung gegen die Werte und Normen der Gruppe vertreten, unmittelbar und massiv Druck auszuüben.

Und weil der Kommunismus seinerzeit als nationale Bedrohung angesehen wurde, kam es zu einer landesweiten politischen Verfolgung von verdächtigen „Roten“. Chandler Davis wurde in  diesem Zusammenhang von zehn Mitgliedern der Fakultät der „Doppelzüngigkeit, Listigkeit und Unaufrichtigkeit, wie man sie von einem Universitätskollegen kaum jemals erwartet hätte“ bezichtigt.

Ob diese ideologische Säuberungswelle tatsächlich die Nation gerettet hat, bleibt indes zweifelhaft. Aber sie wirkt auch noch bis in die Gegenwart, wenn zum Beispiel Anhänger des rechten Flügels behaupten, die Gesundheitsreform der US-Regierung hätte den Beigeschmack des europäischen Sozialismus. Oder man denke an die Liberalen, die das TARP-Rettungsprogramm für die Banken als unternehmerisches Sicherheitsnetz verhöhnten. Davis bedauert übrigens, dass der politische Diskurs in den USA seit den Vorgängen der 1950er Jahre verarmt sei. Mehr noch würden die meisten Ideen zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit und der Kontrolle der Bürger über die Ökonomie von der politischen Debatte ausgeschlossen[2]. Eine dieser Ideen, ein progressives Steuersystem, ist übrigens noch nicht einmal aufgegriffen worden, als im Zusammenhang mit der Diskussion um die Steuersenkungen des früheren Präsidenten Bush die Ungerechtigkeit der Einkommensteuer erörtert wurde. Auch kann niemand leugnen, dass die quantitativen Lockerungsprogramme der US-Notenbank in Höhe von womöglich zwei, fünf oder gar zehn Billionen US-Dollar letztlich nur vom Abstimmungsverhalten des Fed-Offenmarktauschusses (FOMC) abhängen. Wenn man Davis’ Ausführungen folgt, könnte man sogar so weit gehen und die Finanzkrise von 2008 und der Folgejahre abermals als eine nationale Bedrohung, ähnlich der des Kommunismus vor gut 50 Jahren, auffassen. Eine Krise, in deren Folge sich erneut die Tendenz zum Groupthink-Phänomen herausbildet, das nicht auf eine Kleingruppe begrenzt bleibt, sondern sich mindestens auf eine nationale Ebene ausgeweitet hat.

Davis geht sogar noch weiter, wenn er feststellt, dass der Gewinner das „Big Business“ sei, wenn Gedanken zensiert und Abweichler mundtot gemacht würden: „Die Macht, bestimmte Ideen auszuschließen, dient der Macht der Unternehmen.“ Leider gäbe es keine politische Partei, die gegen Unternehmen anträte. Und er fügt verdeutlichend hinzu: „Ich bin für Wahlen, aber es gibt keine Möglichkeit, dass ich gegen Goldman Sachs stimmen kann.“


[1] Davis, C. (1960): From an Exile, ed. R.O. Bowen (Holt, Rinehart & Winston), Erstdruck in The New Professors, Copyright 1960

 

[2] Hedges, C. (2010): The Origin of America’s Intellectual Vacuum, 15. November 2010 in truth-out.org

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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