Behavioral Living Gesellschaft

Mach‘ Dich locker!

am
7. Mai 2012

Gerade war ich auf der größten Internetkonferenz Europas, der Berliner Messe der Netzwelt, re:publica, angekommen, um bei der Verleihung des Finanzblog-Award der Comdirect Bank (youtube – Beitrag hier) als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion und der Preisverleihung mitzuwirken. Da stand ich nun, in zugegeben, teurem Zwirn mit Hemd und Krawatte unter dem Dach einer riesigen alten Fabrikhalle, inmitten von vielen, meist jungen Menschen, von deren Dynamik man zweifellos angesteckt werden konnte. Weit und breit, umringt von offenen Hemd- und T-Shirt-Kragen, war ich der einzige Mensch mit Krawatte. Und ich erwischte mich dabei, dass ich mich so „overdressed“ unbehaglich zu fühlen begann und mich insgeheim fragte, ob ich dieses Accessoire angesichts der erdrückenden Menge leger gekleideter Menschen nicht ablegen sollte. Ich spürte den Druck, den man immer empfindet, wenn man von der Norm der Masse abweicht – Dissonanzen stellten sich fast schon zwangsläufig ein. Aber ich beschloss, das auszuhalten und mich nicht dem Zwang zur Lockerheit zu unterwerfen. Und doch war ich richtig froh als ich nach längerer Zeit endlich am Eingang einen jungen Mann entdeckte, der ebenfalls eine Krawatte trug. Würde ich ihn später bei der Preisverleihung wiedersehen? Die Krawatte wäre für einen Banker gerade repräsentativ gewesen. Dann glitt mein Blick etwas tiefer und ich erblickte ein No go für Banker: Shorts. Immerhin war ich froh, einen teilweise Gleichgesinnten in Sachen Kleidung gefunden zu haben. Meine Dissonanz verringerte sich merklich, ich begann, mich sicherer zu fühlen. Doch dann musste ich entdecken, dass selbst sämtliche Banker bei der Verleihung des Blog-Award keinen Schlips trugen.

Und dann schlenderte ich auch noch an einem Ordner vorbei, der mich etwas abschätzig musterte, um dann mein Outfit mit den folgenden Worten zu kommentieren: „Krawatte? Hier? Das geht gar nicht.“ Das war sie also die Messe der Innovation, der Transparenz im Zeichen der Freiheit, wo anscheinend jeder machen kann, was er will. Nur ich nicht.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, als vor vielen Jahren im Investmentbanking der so genannte Casual Friday eingeführt wurde. Damals wurde als Zeichen der Lockerheit und des bevorstehenden Wochenendes vielerorts der Brauch eingeführt, dass die Banker am Freitag nicht mehr in Anzug und Schlips, sondern in zwangloser Bekleidung zur Arbeit zu erscheinen hätten. Damals wie heute habe ich mich durch meine Liebe zu Krawatten verdächtig gemacht und somit den Eindruck erweckt, jemand zu sein, der Freiheit nicht zu schätzen weiß. Tatsächlich tue ich mich schwer mit so viel Libertinage. Besonders, wenn sie einem als Zwang von oben oder von der Gruppe auferlegt wird.

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1 Kommentar
  1. Antworten

    Marc Schmidt

    7. Mai 2012

    Ähnlich erging es mir beim Handy (Finnischer Hersteller, Älteres Baujahr). Die Apfel-Jünger, die gefühlt 99% der Besucher ausmachten, sendeten immer mitleidige Blicke aus… aber irgendwann gewöhnt man sich auch daran.
    Ich fand den Auftritt mit Krawatte dem Alter und der Position durchaus angemessen – Zeitgeist ist nicht alles!

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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