Behavioral Living Gesellschaft

Früchte des Bösen

am
22. Juni 2011
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Es war ein klarer Morgen an einem dieser schönen Frühlingstage, als ich mich auf meine samstägliche Einkaufstour begab und als erstes den Spargelstand aufsuchte. Dort werden stets auch Erdbeeren angeboten. Erdbeeren, hübsch zum Verkauf aufgereiht in vier offensichtlich genau abgewogenen Körbchen. Vor mir wartete ein Herr mittleren Alters, während eine Frau soeben neben einem guten Kilo Spargel auch eines dieser schönen Erdbeerkörbchen auswählte.Und da geschah es. Just als sich die Verkäuferin zum Kassieren für einen Sekundenbruchteil wegdrehte, schnappte sich die Frau (ganz offensichtlich aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammend) eine Erdbeere aus einem anderen Körbchen, und platzierte es blitzschnell in ihr eigenes. Der Herr vor mir schien offensichtlich nichts bemerkt zu haben und schwieg. Aber auch ich selbst wollte kein Riesendrama wegen einer einzigen Erdbeere anzetteln. Trotzdem ärgerte mich diese Geschichte, denn ich hätte ja, wenn ich nicht so aufmerksam gewesen wäre, als nächster den um eine Erdbeere erleichterten Korb erwischen können. Vermutlich sogar, ohne es zu merken. Eine Bagatelle, oder? Dennoch hatte ich mich aber wahrscheinlich mehr über diese eine geklaute Erdbeere geärgert, als sich die Diebin über ihren kleinen Gewinn gefreut haben mag.
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Aber ich kam noch mehr ins Grübeln. Denn ich stellte mir eine alltägliche Situation vor[1], wie sie vermutlich in jedem Supermarkt vorkommt: Wie gerade jemand ein gutes Pfund Trauben in der Hand hält, sich eine dieser blauen Früchte in den Mund schiebt, um erst danach die Ware abzuwiegen. Im Prinzip genau der gleiche Diebstahl. Auch hier geht es nur um eine Traube. Aber dieses Mal würde ich mich nicht halb so sehr aufregen wie im Falle der einen Erdbeere. Möglicherweise, weil dieser Mundraub für mich nicht sogleich einen erkennbaren persönlichen Schaden nach sich zöge. Gleichwohl könnte er, sofern vielfach begangen, am Ende durchaus zu einer Preiserhöhung der Trauben im Supermarkt führen. Im Gegensatz zum Erdbeer-Delikt würden hier also die negativen Folgen des Diebstahls irgendwann sozialisiert werden, was zumindest in der Gegenwart keine unmittelbaren Konsequenzen für mich hatte.

[1] Tatsächlich hatte mich mein Geschäftspartner Herman, dem ich die ganze Geschichte erzählt hatte, auf diesen Gedanken gebracht.
SCHLAGWÖRTER
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2 Kommentare
  1. Antworten

    EO

    22. Juni 2011

    Diese Geschichte zeugt von der üblichen Betriebsblindheit:

    Obst, eine verderbliche Ware wird in 500 gr Schalen verkauft – genau abgewogen. Eine Kostprobe für die Kunden ist nicht möglich, dafür sind die Gewinne zu knapp kalkuliert. Andererseits fehlt es auch den Kunden am Geld weshalb sie nicht großzügig sein können und zwei Schälchen kaufen. Oder einfach einem anderen aus der eigenen Schale eine Erdbeere zum Probieren abgeben.
    Das ist die Diktatur des Mangels – und statt darüber zu philosophieren, warum das so ist, wird in typisch deutscher Art von Mundraub gesprochen und über 45 gr Erdbeeren diskutiert. Und deshalb ändert sich nichts und unsere Politiker verschieben die nächsten Milliarden nach Griechenland und nach Brüssel, weil diese Zahlen für den Bürger unfassbar sind im wahrsten Sinne des Wortes. Und gerade deshalb sind dem Bürger 45 gr in Form einer Erdbeere viel leichter verständlich zu machen und deshalb resoniert er darüber.

    Jeder wie er kann, auch wenn es falsch ist!
    Gruß, EO

  2. Antworten

    sunny

    22. Juni 2011

    Ein treffendes Beispiel für den real existierenden Verhaltens-Wahnsinn. Immer mehr, es reicht noch nicht.

    Wie hier auf der Mikroebene beschrieben – verhält es sich auch auf der Makroebene. Dort ist es genau das Gleiche. Heute – mit Vorsatz – auf Kosten der Anderen leben (sei es die gemopste Erdbeere im Kleinen oder z.B. der Raubbau an den natürlichen Ressourcen im Großen) und dabei keinerlei schlechtes Gewissen an den Tag legen, weil die Konsequenzen heute nicht von dem Verursacher selbst zu tragen sind. Aber möglicherweise morgen von den eigenen Kindern/Nachkommen.

    Vielleicht hätten Sie die Frau einfach mal ansprechen sollen – nach dem Motto: „Hier sie Ärmste, ich leg noch eine von meinen Erdbeeren für sie drauf. Sie sehen so aus, als ob sie es nötig haben.“ Aber bitte schön laut, so dass es jeder hört – wetten, die gute Dame macht so etwas kein zweites Mal?

    An dieser Stelle empfehle ich das wunderbare (Hör-)buch des Philosophen Richard David Precht:
    Die Kunst, kein Ego­ist zu sein, 5 Au­dio-CDs

    http://www.weltbild.de/3/16311282-1/hoerbuch/die-kunst-kein-egoist-zu-sein-5-audio-cds.html#produktbeschreibung

    „Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält. Ist der Mensch gut oder schlecht? Ist er in der Tiefe seines Herzens ein Egoist oder hilfsbereit? Und wie kommt es eigentlich, dass sich fast alle Menschen mehr oder weniger für die »Guten« halten und es trotzdem so viel Unheil in der Welt gibt? Das Buch stellt keine Forderung auf, wie der Mensch zu sein hat. Es untersucht – quer zu unseren etablierten Weltbildern – die Frage, wie wir uns in unserem täglichen Leben tatsächlich verhalten und warum wir so sind, wie wir sind: Egoisten und Altruisten, selbstsüchtig und selbstlos, rivalisierend und kooperativ, nachtragend und verzeihend, kurzsichtig und verantwortungsbewusst. Je besser und unbestechlicher wir unsere wahre Natur erkennen, desto gezielter können wir unsere Gesellschaft verändern und verbessern. Ein Buch, das uns dazu bringt, uns selbst mit neuen Augen zu sehen!“

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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