Behavioral Living Verschiedenes

Der verlorene Sohn

am
27. Juni 2011
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Kürzlich musste ich einmal wieder an das Gleichnis vom verlorenen Sohn aus dem Lukas-Evangelium denken. Es erzählt die Geschichte von einem Vater und dessen zwei Söhnen, von denen der jüngere um die Auszahlung seines Erbteils bittet, was ihm dann auch gewährt wird. Kurz darauf zieht er in die Fremde, wo er all sein Vermögen verprasst. Am Ende kehrt er reumütig zu seinem Vater zurück, um bei ihm als Tagelöhner zu dienen. Der Vater aber freut sich so sehr über die Rückkehr seines Sohnes, dass er seinen Knechten aufträgt, das schönste Kleid, einen Ring und neue Schuhe zu besorgen. Und als ob das nicht genug wäre, lässt er auch noch ein gemästetes Kalb schlachten und ein großes Willkommensfest für den verloren geglaubten Sohn ausrichten.
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Der ältere Sohn reagiert indes mit Eifersucht und Zorn auf die Wiedersehensfreude seines Vaters und  sagt zu ihm: „Siehe, so viele Jahre diene ich Dir und habe dein Gebot noch nie übertreten und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre.“[i] Auch beklagt er sich, sein Bruder würde mit offenen Armen vom Vater empfangen, obwohl er sein Hab und Gut verprasst habe. Der Vater aber antwortet ihm: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlichen guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden.“[ii]
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Meine Sympathie hatte stets dem älteren Bruder gegolten; ich konnte seine Wut verstehen. Immer hatte er sich selbstlos in den Dienst seines Vaters gestellt, und nun muss er miterleben, wie sein jüngerer Bruder, der sein Erbteil schon längst verbraucht hat, quasi eine zweite Chance bekommt. Natürlich ist mir klar, dass dem Älteren durch den herzlichen Empfang des Zweitgeborenen kein ökonomischer Nachteil entsteht – trotzdem fühlt es sich irgendwie ungerecht an. Und das mag daran liegen, dass sich allein drei Verse des Bibeltexts vornehmlich auf die Freude des Vaters über den zurückkehrenden Sohn konzentrieren[iii], während der großen Trauer, die der Vater ob des Verlustes seines Sohnes erlitten haben muss, kein einziger gewidmet ist. Wo doch die Menschen Verluste meist doppelt so schwer wie Gewinne in gleicher Höhe bewerten! Da wären doch sechs Trauerverse angemessen gewesen.
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Inzwischen weiß ich, dass dieses Gleichnis bereits vor rund zweitausend Jahren vieles schildert, was in unserer Gegenwart als gesicherte Erkenntnis der Behavioral economics gilt. So ist uns heute klar, dass der Vater dem so genannten „Gewöhnungseffekt“ unterlag. So selbstverständlich erschien ihm das Wohlverhalten seines älteren Sohnes über die vielen Jahre hinweg,  dass er es nicht für nötig hielt, ihn vielleicht auch einmal außer der Reihe zu belohnen. Gerade die lobenswerte Zuverlässigkeit des Sohnes sorgte dafür, dass sich für den Vater keine Abweichungen vom wahrgenommenen Bezugspunkt ergaben. Weder im Guten noch im Schlechten. Anders beim jüngeren Sohn, den er schon verloren geglaubt hatte, aber dann doch wiederbekam – ein Vorteil für den Heimkehrer, fühlte sich dessen Wiederauftauchen für den Vater nicht nur wie ein wettgemachter Verlust, sondern wie ein richtiger Gewinn an.  Vermutlich hat er ihn auch deshalb mit einem rauschenden Fest empfangen.

[i] vgl. Lukas 15,30
[ii] vgl. Lukas 15, 31 bis 32
[iii] vgl. Lukas 15,22-24
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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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