Gesellschaft Politik

Du bist nichts, dein Netz-Werk ist alles!

am
24. April 2012

Die Piraten segeln zurzeit mit Rückenwind ins Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung. Ich selbst tue mich jedoch schwer mit ihrer zentralen Forderung, das Urheberrecht abzuschaffen. Anscheinend beabsichtigen sie, das Recht auf geistiges Eigentum dem Gedanken eines freiheitlichen Internets zu opfern. Überflüssig an dieser Stelle zu erwähnen, dass viele Informationen, Kommentare und Kolumnen, also publizistische und journalistische Arbeiten, ohnehin meist schlecht, wenn nicht gar miserabel oder überhaupt nicht bezahlt werden. Weshalb ich mir des Weiteren die Frage stelle, ob es außer den Beweggründen, sich im Schreiben selbst zu verwirklichen, eigene Ideen zu vermarkten, oder einem gesteigerten Mitteilungsbedürfnis auch noch weitere Motive gibt, sich zu äußern. Warum aber sollte jemand überhaupt noch etwas Geistiges produzieren, wenn er dessen Früchte nicht alleine nutzen darf, sondern umgehend der Allgemeinheit zur Verfügung stellen muss? Eine Einladung für Trittbrettfahrer, Plagiatoren und intellektuelle Faulenzer im Namen der Freiheit. Und eine nachträgliche Rehabilitierung für den vorerst gescheiterten Doktoranden Guttenberg.

Eine viel größere Gefahr sehe ich allerdings darin, dass mit dem grenzenlosen Kopieren geistigen Eigentums die Menge an verfügbaren Informationen zu einer Flut anschwillt, die sich, vor allem auch aufgrund der massenhaften Ausbreitung sozialer Netzwerke in den vergangenen ein bis zwei Jahren, zu einem wahren Tsunami entwickeln kann. Dabei hat sich das Grundrauschen des Nachrichtenstroms so deutlich erhöht, dass nur noch sehr bunte, gewagte, extreme Neuigkeiten von den Nutzern überhaupt wahrgenommen werden. Das ist nicht nur in den Finanzmärkten der Fall, sondern beeinflusst auch das politische Leben. Damit haben es Extrempositionen wesentlich leichter, nicht nur Akzeptanz zu finden, sondern sogar zur gesellschaftlichen Norm werden zu können, vor allem wenn ihre Urheberschaft auf Grund der Sozialisierung geistigen Eigentums nicht mehr kenntlich ist. Während andere, gemäßigtere  Haltungen erst gar nicht gesehen werden.

Warum aber lassen sich so viele Wähler von den obskuren Ideen der Piraten kapern? Wegen der Politikverdrossenheit vieler Bürger? Weil die etablierten Parteien zu sehr am Status quo festkleben und deren Entscheidern Mut zu einem erhöhten Commitment fehlt, das zwangsläufig mit jeder neuen Entscheidung einhergeht? Eine Partei ohne klare Ziele, wie sie sich am intellektuellen Horizont  der Piraten bislang auch nicht abzeichnen, muss hingegen nur ein geringes psychologisches  Commitment eingehen. Alles scheint erlaubt. Hatte nicht erst neulich der Berliner Landeschef der Piraten, Hartmut Semken, erklärt[1]: „Ich werde nicht verachten lernen, deswegen werde ich selbst auf Nazis nicht mit Verachtung reagieren…“, eine Haltung, die auf den ersten Blick so menschlich und tolerant anmutet, aber im Grunde nur eine Wurschtigkeit umschreibt, die aus Bequemlichkeit oder mangelnder Konfliktbereitschaft alles zulassen will, eben auch Neonazis. Oder ebenso Kinderschänder oder Terroristen?

Selbst die geheimsten Wünsche oder klammheimlichen Sympathien und Freuden sind offenbar erlaubt. Hierzu passt auch der Wunsch vieler Occupy-Anhänger nach mehr Gerechtigkeit und der Aufhebung großer materieller Ungleichheiten in der Gesellschaft. Dahinter steckt nicht nur die Sehnsucht nach theoretischer Systemveränderung. Doch bevor man die Reichen allesamt enteignet und ihnen ihre Villen, Autos und Konzerne wegnimmt, wird zunächst das geistige Eigentum angetastet. Und das geschieht, wie bei jeder Revolution, natürlich nur im Namen der Freiheit, frei nach dem Motto: „Du bist nichts, Dein Netz-Werk ist alles!“



[1] vgl. Spiegel online vom 22. April 2012

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6 Kommentare
  1. Antworten

    Dirk Abe

    24. April 2012

    Hallo Joachim,

    in diesem Fall ist knapp daneben leider auch vorbei.
    Kurz: Wir, die Piraten, wollen keinen falls das Urheberrecht abschaffen.
    Lang:
    http://www.piratenpartei.de/2012/04/15/vorstellung-der-urheberrechtspositionen-der-piratenpartei-und-aufklarung-von-mythen/

    Grüße
    Dirk

  2. Antworten

    Dirk Abe

    25. April 2012

    Hallo Joachim,

    meinst Du diesen Abschnitt des GS-Programms?

    „Freies Kopieren und freie Nutzung
    Da sich die Kopierbarkeit von digital vorliegenden Werken technisch nicht sinnvoll einschränken
    lässt und die #ächendeckende Durchsetzbarkeit von Verboten im privaten Lebensbereich als gescheitert betrachtet werden muss, sollten die Chancen der allgemeinen Verfügbarkeit von Werken
    erkannt und genutzt werden. Wir sind der Überzeugung, dass die nichtkommerzielle Vervielfältigung und Nutzung von Werken als natürlich betrachtet werden sollte und die Interessen der meisten Urheber entgegen anders lautender Behauptungen von bestimmten Interessengruppen nicht
    negativ tangiert.
    Es konnte in der Vergangenheit kein solcher Zusammenhang schlüssig belegt werden. In der Tat
    existiert eine Vielzahl von innovativen Geschäftskonzepten, welche die freie Verfügbarkeit bewusst
    zu ihrem Vorteil nutzen und Urheber unabhängiger von bestehenden Marktstrukturen machen können.
    Daher fordern wir, das nichtkommerzielle Kopieren, Zugänglichmachen, Speichern und Nutzen von
    Werken nicht nur zu legalisieren, sondern explizit zu fördern, um die allgemeine Verfügbarkeit von
    Information, Wissen und Kultur zu verbessern, denn dies stellt eine essentielle Grundvoraussetzung
    für die soziale, technische und wirtschaftliche Weiterentwicklung unserer Gesellschaft dar.“

    (Zitat Ende)

    Hier geht es um die rechtliche Ausgestaltung der Privatkopie und der nichtkommerziellen Nutzung (Bildung und Wissenschaft).
    Dabei ist es das Ziel wieder ein Gleichgewicht zwischen den Interessen der Urheber
    und den Interessen der Gesellschaft im Allgemeinen herzustellen.
    In den letzten Jahren wurde durch die diversen „Körbe“ der Urheberrechtsreformen
    die Interessen der Nutzer (und auch der Urheber!) zu Gunsten der Verwerter teils erheblich beschnitten.

    Es ist mit nichten unser Ziel das Urheberrecht „abzuschaffen“.

    Grüße

    Dirk

  3. Antworten

    Dirk Abe

    26. April 2012

    Hallo Joachim,

    nochmal: Wo steht im Grundsatzprogramm, das die Piraten eine Abschaffung des Urheberrechts anstreben?

    Grüße

    Dirk

    • Antworten

      Joachim Goldberg

      26. April 2012

      Um diese fruchtlose Diskkussion zu beenden, schlage ich vor, dass sich unsere Leser selbst ein Bild über den Artikel 3 http://wiki.piratenpartei.de/wiki/images/0/04/Grundsatzprogramm-Piratenpartei.pdf „Urheberrecht und nicht-komerzielle Vervielfältigung“ machen sollen(wobei ich schon eine Kontrolle über nicht-kommerzielle/kommerzielle Vervielfältigung als für kaum durchführbar einschätze).Ich weise vor allem auf die Absätze „Keine Beschränkung der Kopierbarkeit“, „Freies Kopieren und Freie Nutzung“ hin.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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