Dot-Plots mit menschlichen Zügen
Dass die Woche an den Finanzmärkten für viele Akteure vermutlich unangenehm geendet hat, dürfte dem wahrscheinlicher gewordenen Kurswechsel der US-Notenbank zuzuschreiben sein. Wenn man es genau nimmt, ging es doch eigentlich nur ein paar geänderte ökonomische Prognosen und um die sogenannten Dot-Plots, die die Mitglieder des Offenmarktausschusses (FOMC) einmal im Quartal abgeben. Vorhersagen, aus denen ersichtlich wurde, dass erste Zinsanhebungen nun mehrheitlich für Ende 2023 erwartet werden. Einige FOMC-Vertreter – es handelt sich um sieben Mitglieder – gehen davon aus, dass dies schon Ende 2022 geschehen könnte.
Bullards Auftritt
Nun hat einer dieser Dot-Plots am Freitag ein Gesicht bekommen. Und zwar in Gestalt des Chefs der regionalen Fed von St. Louis, James Bullard, der sich in einem CNBC-Interview als einer derjenigen outete, die sich für eben dieses frühe Datum zum Einleiten erster Zinsschritte entschieden haben. Vergessen war das Statement von Fed-Chef Jerome Powell, dass die Projektionen der FOMC-Mitglieder keine Entscheidung des Ausschusses oder gar einen Plan darstellten. Vergessen war auch, dass James Bullard derzeit im Ausschuss nicht stimmberechtigt ist. Was allein aus psychologischer Sicht zählte, war das, was James Bullard über die Kamera dem Zuschauer nahebrachte.
Opfer des Verfügbarkeitsirrtums
Man könnte auch sagen, dass Bullard dafür gesorgt hat, dass die Akteure an den Finanzmärkten Opfer einer in der Behavioral Finance als Verfügbarkeitsirrtum[1] bezeichneten Heuristik wurden. Denn Bullard hat den abstrakten und trockenen Prognosepunkten plötzlich Leben eingehaucht, indem er sie mit Erklärungen, mit Farbe versah. Bullard erklärte genauestens, warum er auf einen Zinsschritt der Fed im kommenden Jahr setzt: Er rechnet mit einer Kerninflation (gemessen am PCE) von 3 Prozent für 2021 und 2,5 Prozent im Jahr 2022. Klingt logisch.
Das Komitee sei in den vergangenen sechs Monaten positiv überrascht worden. Sowohl in Sachen Wachstum als auch hinsichtlich der Inflation. Und wenn dann Bullard auch noch gegenüber CNBC feststellt, dass Fed-Chef Jerome Powell die Tapering-Diskussion bei der vergangenen FOMC-Sitzung eröffnet habe, gewinnt man fast den Eindruck, dass in der Fed ein Umdenken stattgefunden haben könnte. Bullard sprach nicht mehr von der erhöhten Inflation als vorübergehendem Phänomen, sondern schien stattdessen davon auszugehen, dass Zinserhöhungen notwendig sind, um diese in den Griff zu bekommen
Zum Falken mutiert
Auch wenn Bullard betonte, dass es im FOMC auch andere Meinungen gebe und ökonomische Vorhersagen bisweilen von Unsicherheit behaftet seien, attestierte er dem Ausschuss in der Sitzung der vergangenen Woche eine hawkishe Neigung. Was manch einen irritiert haben mag: Die einstige moderate Taube Bullard ist anscheinend zu einem geldpolitischen Falken mutiert. Nicht umsonst rätselte ein Kommentator, wie sich wohl eingefleischte Falken im FOMC erst gerieren würden, wenn sich schon ein Bullard als „hawk“ fühle.
Kashkari kommt zu spät
Nun werden in der kommenden Woche noch andere Mitglieder des Offenmarktausschusses zu Wort kommen, darunter auch Jerome Powell im Rahmen einer Anhörung vor einem Unterausschuss des Repräsentantenhauses. Einer von ihnen ergriff bereits am Freitag das Wort, allerdings zu spät, um etwa noch die gefallenen Aktienmärkte zu stützen. Die Rede ist vom Chef der Fed von Minneapolis, Neel Kashkari, einer ausgewiesenen Zinstaube, aber ebenfalls derzeit ohne Stimmrecht im FOMC. Abgesehen davon, dass Kashkari die hohen Inflationsraten als vorübergehend sieht, machte er einen konstruktiven Vorschlag: Den Dot-Plots ein Ende zu bereiten.
Der US-Dollar stabilisierte sich auch am Freitag noch einmal deutlich, nicht zuletzt, weil sich die Kurse der langfristigen US-Staatsanleihen, vermutlich auch durch Stopp-Loss-Käufe getrieben, nach oben entwickelten. Der Euro verbuchte im Gegenzug die schlechteste Woche seit Anfang April 2020: Wir sprechen von einem Verlust von rund 2,0 Prozent. Damit hat sich der kurzfristige Abwärtstrend (Potenzial 1,1755, darunter 1,1655) fortgesetzt, dessen Momentum überdies unterhalb von 1,1945 hoch bleiben wird.
Hinweis
Die genannten Preisniveaus verlieren ab einer bestimmten Durchstoßgröße ihre Gültigkeit. Diese beträgt für EUR/USD 5 Stellen.
[1] Der Verfügbarkeitsirrtum besagt, dass zeitnahe, ortsnahe, farbige, leicht erklärbare, also leicht verfügbare Informationen anderen Nachrichten oft vorgezogen, mithin zu stark bewertet werden.