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Von der Lüge zur Wahrheit

am
22. Oktober 2015

Seit die Kommunikation zwischen Menschen durch soziale Netzwerke und Foren im Internet beherrscht wird, ist es nicht schwer, für jedes psychische Problem oder körperliche Gebrechen eine schnelle Erklärung und manchmal auch Hilfe zu finden. Leider sieht man es diesen Erklärungen nicht immer an, ob sie stimmen oder ob sie schlicht Blödsinn sind. Oftmals forschen die Hilfesuchenden so lange, bis sie gefunden haben, was ihnen passt, aber nicht helfen muss.

Das gilt leider auch für kaum zu verstehende Ereignisse wie die Anschläge des 11. September 2001. Oder die Finanzkrise, die im Jahr 2008 implodierte und geldpolitische Programme der Zentralbanken zur Folge hatte, mit deren Konsequenzen sich die Forscher rund um den Globus immer noch auseinandersetzen müssen. Man braucht selbst in der Gegenwart nicht lange zu suchen, um etwa im Internet nach Erklärungen für das Verschwinden von Flugzeugen oder den Schuldigen für die für viele Menschen als bedrohlich, weil nicht kontrollierbar, empfundene Flüchtlingskrise zu finden. Und manchmal sind diese Erklärungen abenteuerlich.

Es ist aber auch kein Wunder, dass die Menschen in dieser enormen Vielfalt von Informationen nur diejenigen wahrnehmen, die sich vom allgemeinen Grundrauschen abheben. Und das Niveau dieses Grundrauschens wird vom sogenannten Mainstream der Tagespresse bestimmt: Informationen, die niemand mehr hinter dem Ofen hervorlocken und im schlimmsten Fall sogar als Lügenpresse tituliert werden.

Ob wir tatsächlich belogen werden?

Ich weiß es nicht, und darum geht es mir an dieser Stelle auch gar nicht. Aber wer wahrgenommen werden will, muss sich im Sinne des Weberschen Gesetzes vom Grundrauschen abheben[1]. Und das geschieht vor allem fast nur ex negativo. Informationen sind dann interessant, wenn sie ohnehin Schlimmes ins Extreme steigern. Und diese Tendenz hat sich während der vergangenen Jahre durch das Internet drastisch verstärkt. Eigentlich müssten die vermutlich über 300 Millionen Blogger-Auftritte durch den damit ausgelösten Informationswettbewerb für eine immer bessere Qualität an Informationen sorgen. Während dies für die traditionellen Medien gelten mag, scheint die Idee, durch Wettbewerb ein Mehr an Qualität zu bekommen, im Cyberspace nicht zu gelten.

 

Ausgezeichnetes Chance/Risiko-Verhältnis für Sensationen

Das mag vermutlich damit zusammenhängen, dass etwa Blogbeiträge durch ihre geringen Kosten eine relativ niedrige Eintrittshürde in die Nachrichten-Welt überwinden müssen. Aber selbst der ernsthafteste Blogger wird nur dann bekannt, wenn er sich vom Rest der Mitbewerber abhebt. Und das Risiko, für eine überspitzt dargestellte Nachricht, bestraft zu werden, ist im Vergleich zur Belohnung, möglicherweise Guru-Status zu erlangen, gering. Eine Nachricht muss nicht in erster Linie akkurat dargestellt werden. Vielmehr generiert sie nur Follower und „Likes“ und vielleicht sogar ein wenig Geld, wenn sie sensationell aussieht. So stellten etwa Wissenschaftler der INSEAD Business School fest, dass Wettbewerb unter den Bloggern generell zu einem übertrieben negativen Unterton in den Beiträgen führten ohne dass sich dadurch die Qualität der Information – in der Studie ging es um Finanzanalysten – wesentlich verbessert hätte[2].

Am Ende werden Nachrichten, vorzugsweise Negatives, Unglücksfälle, Betrügereien oder schwerwiegende Vergehen nur wahrgenommen, wenn sie das bisher Bekannte noch einmal toppen. Ein möglicher Verlust, der sich aus dem VW-Abgasskandal ergeben könnte, ist längst nicht mehr interessant, wenn er, wie kolportiert, nur Geldstrafen in Höhe von bis zu 18 Milliarden US-Dollar nach sich zieht, sondern das Unternehmen als Ganzes bedrohen könnte. Selbst 50 Milliarden sind zu wenig für eine Sensation, und schon rechnet womöglich jemand einen Verlust von 100 Milliarden Euro für VW aus. Das wird dann wahrgenommen.

 

Von der Sensation zur Verschwörung

Sie wollen etwas Interessantes erzählen? Dann muss es schon etwas Extremes sein. Am besten etwas, das bisher nicht gesagt werden durfte. Ein Tabubruch. Aus den Erkenntnissen der Verhaltensökonomik weiß man, dass die Verfügbarkeitsheuristik dafür sorgt, dass farbige und auffällige, zeit- und ortsnahe Informationen bevorzugt wahrgenommen werden.

Am besten eine Story, in der ein Ereignis oder eine Tätigkeit geheimen Machenschaften mächtiger Menschen zugeschrieben werden, die selbst nur im Verborgenen tätig sind.

So definiert zumindest der Harvard Professor für Rechtswissenschaften Cass A. Sunstein eine Verschwörungstheorie[3]. Und es ist Sunstein, der eine US-Studie zitiert, wonach 36 Prozent der Befragten zustimmten, dass Staatsbedienstete entweder an den Angriffen des 11. September 2001 auf das World Trade Center teilnahmen oder nichts unternahmen, um sie zu stoppen. Dabei handelt sich keineswegs nur um irgendwelche Spinner, die besonders anfällig für Verschwörungstheorien wären. Nein, es sind erstaunlich viele Menschen, die diesen manchmal extremen Ansichten – obwohl die ihnen zugrunde liegenden Informationen oft jeglicher Relevanz entbehren – Glauben schenken. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, dass diejenigen, die solche Theorien vertreten, zum Teil ganz ernsthafte Absichten verfolgen. Aber manchmal möchten ihre Urheber einfach nur Geld verdienen oder eben Guru-Status erlangen. Das größte Problem ist jedoch, dass einige Verschwörungstheorien sogar der Wahrheit entsprechen. Und andere wiederum nicht.

Es ist wohl dem Kontrollbedürfnis der Menschen geschuldet, dass viele von ihnen einfach nicht glauben möchten, dass bedeutende Ereignisse manchmal auch nur einfach durch Glück oder Pech oder einen dummen Zufall ausgelöst worden sind. Mit anderen Worten: Es muss für die wichtigen Dinge, die wir erleben, eine Ursache oder zumindest eine Erklärung geben. Viele Menschen halten den Kontrollverlust, bedeutsame Ereignisse nicht einem bestimmten Urheber zuschreiben zu können oder den Zufall als gegeben hinnehmen zu müssen, kaum aus. Und es ist genau dieser Kontrollverlust, der häufig als bedrohlich empfunden wird, der das Entstehen von Verschwörungstheorien begünstigt. Aber im Wesentlichen erscheinen sie vielen Menschen plausibel, weil sie ein passendes Ventil für Empörung und Schuldzuweisung bieten. Oder weil derartige Geschichten gut ins eigene Weltbild passen. Und wenn dann auch noch Prominente oder anerkannte Autoritäten solche mitunter ziemlich zweifelhaften Erklärungen implizit oder explizit bestätigen, dann verleihen sie diesen so etwas wie ein Gütesiegel. Und möglicherweise wird so die Lüge zur Wahrheit verklärt.

 

[1] je höher ein Grundreiz ist, desto stärker muss ein zusätzlicher Reiz nach diesem Gesetz ausfallen, damit er wahrgenommen wird

[2] Dong, Yi; Massa, Massimo und Zhang Hong (2014): Guru Dreams and Competition: An Anatomy of the Economics of Blogs, Working Paper, INSEAD Faculty & Research

[3] Sunstein, Cass R. (2014): Conspiracy Theories and Other Dangerous Ideas, New York

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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