Zocken mit gezinkter Münze
Wer möchte nicht einmal an einem Münzwurfspiel teilnehmen, bei dem man nicht wie gewohnt eine 50/50-Chance auf einen Gewinn hat, sondern aufgrund einer Manipulation eine 60-prozentige Chance besitzt, dass nach einem Wurf „Kopf“ erscheint, verbunden mit einer 40-prozentigen Chance auf „Zahl“ [1]. Eigentlich eine klare Sache, könnte man meinen. Sie können es selbst einmal auf der folgenden Seite http://coinflipbet.herokuapp.com/ ausprobieren. Zwar geht es dort nicht um echtes Geld, aber das Programm war Gegenstand einer jüngst erschienenen Studie zweier Vermögensverwalter[2].
Die Spielregeln dieses digitalen Experiments waren einfach. Ausgestattet mit einem Anfangskapital von 25 US-Dollar, durfte man von seinem Vermögen (Kredite waren nicht möglich) so viel man wollte einsetzen – hinzugewinnen bzw. verlieren konnte man pro Münzwurf jeweils den Spieleinsatz. Damit das Spiel für die Veranstalter bei einer derartigen Gewinn-Verlust-Chance von 60/40 nicht zu teuer wurde, wurde die Auszahlungssumme auf 250 USD begrenzt. War das Vermögen des Probanden indes verbraucht, war das Spiel beendet. Die Dauer des Spieles betrug 30 Minuten, so dass es nach Angaben der Organisatoren theoretisch möglich war, bis zu 300 Wetten zu platzieren – mit einer recht bedächtigen Spielgeschwindigkeit hätte man etwa 150-180 Wetten in diesem Zeitraum schaffen können.
Gute Gewinnwahrscheinlichkeit garantiert noch keinen Profit
Allerdings sind die Ergebnisse dieser Studie, auf die mich übrigens ein Artikel in der Financial Times aufmerksam gemacht hatte[3], niederschmetternd. Unter den 61 Teilnehmern des Experiments – dort ging es um echtes Geld – befanden sich immerhin Studenten der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften (College Niveau), Investoren, junge Angestellte von Finanzunternehmen, darunter 14 Analysten zweier führender Vermögensverwalter.
Nur 21 Prozent der Teilnehmer erreichten den Höchstbetrag von 250 Dollar. Das ist ausgesprochen wenig, wenn man bedenkt, dass eigentlich 95 Prozent der Teilnehmer bei einem konstanten Einsatz zwischen 10 und 20 Prozent des erreichten Kapitals pro Wette dieses Ziel hätten erreichen müssen[4]. 28 Prozent der Befragten gingen pleite oder hatten am Ende des Spiels weniger als zwei Dollar auf dem Konto. Und das mit einer 60/40-Wahrscheinlichkeit, jeweils das Spiel zu gewinnen! Immerhin kamen 51 Prozent der Befragten auf einen durchschnittlichen Gewinn von 75 Dollar, was angesichts der günstigen Ausgangsbasis der Spiele dennoch recht wenig ist. Außerdem sollen zwei Drittel der Teilnehmer mindestens einmal auf „Zahl“ gesetzt haben, deren Gewinnwahrscheinlichkeit doch nur bei 40 Prozent lag! 18 Prozent der Teilnehmer setzten gleich zu Beginn das komplette Kapital auf eine Karte.
Behavioral Biases statt Kelly
Die optimale Strategie wäre eigentlich gewesen, dem sogenannten Kelly-Kriterium zu folgen, das 1956 in der Mathematik-Literatur erstmals erwähnt wurde[5].
Den meisten Teilnehmern an der Wette war jedoch trotz einer vielfach eingehenden Finanz-Ausbildung das Kelly-Kriterium[6] nicht bekannt und sie verfügten auch nicht über einen ähnlichen analytischen Ansatz. Stattdessen zeigten die Probanden typische Verhaltensmuster, wie sie in der Behavioral Finance beschrieben werden. Aber auch ich merkte während meines Selbstversuchs, wie schwierig es ist, eine halbe Stunde lang konsequent einen stringenten Ansatz beim Wetten durchzuhalten. Und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie groß die Versuchung bei diesem Spiel ist, auf typische Fehler wie Kontrollillusion, Erhöhen des Einsatzes nach einer Verlustserie (sunk cost, gambler’s fallacy) zu verfallen.
Wesentlicher erscheint mir indes die Frage, wie es möglich sein soll, dass ein so hoher Prozentsatz angeblich in Wirtschaft-und Finanzwissenschaften bestausgebildeter Menschen in Finanzmärkten zurechtkommen kann, wo es dort doch um weitaus komplexere Zusammenhänge geht, als in einem einfachen Spiel mit einer auch noch zu ihren Gunsten manipulierten Münze? Denn es handelte sich bei den Probanden immerhin auch um Profis, und diese tragen die Verantwortung dafür, nicht nur die Rendite ihrer Kunden zu verbessern, sondern auch deren mühsam Erspartes zu verwalten, zu erhalten und möglichst auch zu mehren.
[1] Hinzugewinnen bzw. verlieren kann man pro Münzwurf jeweils den Spieleinsatz
[2] Haghani, Victor (Elm Partners), Dewey, Richard (Pimco): Rational Decision-Making under uncertainty: Observed Betting Patterns on a Biased Coin, Working Draft dd. 19.10.2016
[3] FT online, gelesen am 29.10.2016: What flipping a loaded coin can tell you about stock investing
[4] Dieser Prozentsatz wurde vom Veranstalter durch eine Monte-Carlo-Simulation ermittelt
[5] Nach John Larry Kelly jr (1956): A New Interpretation of Information Rate in Bell System Technical Journal vol. 35, S. 917–926. Das Kelly-Kriterium besagt, dass man den idealen Einsatz ermittelt, indem in unserem Fall die Gewinnwahrscheinlichkeit rechnerisch verdoppelt und davon die Zahl 1 abzieht. Dies wären hier 60 % Gewinnwahrscheinlichkeit: (0,6 × 2) -1 = 0,2. Mit anderen Worten, vom Startkapital von 25 Dollar hätten 20 Prozent, mithin also fünf Dollar, aufs Spiel gesetzt werden dürfen. Beim nächsten Spiel wird der Einsatz anhand des neuen Kapitals neu berechnet. Der Erwartungswert bei 300 Wetten liegt bei unserem Spiel gemäß Kelly- Kriterium übrigens über 3 Millionen Dollar!
[6] Das Kelly-Kriterium scheint auch nicht auf den Lehrplänen für einführende Finanzwissenschaftskurse oder auf Trading oder Asset Pricing ausgerichtete Lehrgänge führender US-Wirtschaftshochschulen wie MIT, Columbia etc. zu stehen