Behavioral Living

Zehn Tage bis Flensburg

am
10. Februar 2011

Als ich heute mit dem Taxi fuhr, fiel mir auf, wie korrekt der Fahrer die Geschwindigkeitsbegrenzungen und Ampeln beachtete. Er fuhr eher langsamer als exakt 50 km/h in der Innenstadt, und wenn es angezeigt war, hielt er sich sogar an das Tempo-30-Limit in verkehrsberuhigten Gebieten. Die Ampel sprang auf Gelb – brav wurde gebremst. Wir passierten einen Blitzer – vorschriftsgemäß. „Den kennen Sie wohl!“, lobte ich als Ausdruck meiner Bewunderung ob so viel Gesetzestreue den Droschkenführer. „Ja, hier bin ich als Greenhorn einmal erwischt worden. Hat mich ordentlich Geld und einen Punkt in Flensburg gekostet“, murmelte er. „Aber jetzt kennen Sie jede Ecke in Frankfurt, nicht wahr?“, erwiderte ich.

Ja mein Fahrer kannte inzwischen Frankfurt. Aber für seine hervorragenden Ortskenntnisse hatte er mit den Jahren ins Zentralregister von Flensburg satte neun Punkte als Lehrgeld eingezahlt. Aber: „In zehn Tagen bin ich frei“. Das klang so, als ob mein Chauffeur gerade eine langjährige Gefängnisstrafe verbüßt hätte und nun demnächst seine Entlassung anstand. Und dann erklärte er mir, der ich aus Prinzip sehr selten selbst Auto fahre, dass nach zwei Jahren alle Punkte im Zentralregister gelöscht würden, wenn man sich während dieser Zeit keines neuen punktewürdigen Vergehens schuldig gemacht hatte.

Jetzt wurde mir klar, warum mein Gegenüber jedes Verkehrszeichen aufs Genaueste befolgte. Er wollte so kurz vor Ende dieser Frist nichts mehr anbrennen lassen. Es wäre doch zu schade, wenn es ihn im letzten Moment noch erwischen würde. Und so litt ich fast mit ihm und konnte mir vorstellen, wie schwer jeder weitere Tag, den mein Fahrer näher an die zeitliche Ziellinie, den Bezugspunkt, herankam, wiegen musste. Ein Strafpunkt, der ihm vor einem Jahr oder gar sechs Monaten noch längst nicht so viel ausgemacht hatte, wie er mir versicherte. Jetzt aber, so kurz vor Torschluss, schien die Risikoaversion meines Fahrers exponentiell zuzunehmen.

Meinem Vorschlag, das Taxi doch einfach die kommenden zehn Tage stehen zu lassen, damit nichts passierte, wollte er aber dann doch nicht folgen. Er müsse ja Geld verdienen, so der Einwand. Und so blieb ich mit einem seltsamen Gefühl zurück. Denn allein der Referenzpunkt, das zeitliche Limit, ließ den Taxler zu einem braven Verkehrsteilnehmer werden und all‘ jene Regeln befolgen, die er zu einem anderen Zeitpunkt sicherlich mit Nonchalance dann und wann missachtet hätte.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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