Wer hat das größte Geweih?
Als ich mir vor einiger Zeit das Buch The Darwin Economy von Robert H. Frank zulegte, musste ich fast ein wenig schmunzeln: Der Autor, den ich sehr schätze, trifft darin in der Tat eine gewagte Vorhersage, für die er, so vermutet er selbst, nicht mehr belangt werden kann. Denn als Ökonom zu prognostizieren, dass seine Fachkollegen in 100 Jahren mehrheitlich Charles Darwin als den geistigen Vater ihrer Disziplin benennen könnten, erscheint auf den ersten Blick ziemlich kühn und verwegen zu sein. Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese steile These jedoch als nicht ganz ungerechtfertigt. Würde man dieselbe Frage heute an Wirtschaftswissenschaftler stellen, so dürften die meisten wohl eher einen berühmten Ökonomen wie Adam Smith als ihren geistigen Vater nennen.
Frank begründet seine Vorhersage mit einem kleinen, aber dennoch äußerst gewichtigen Unterschied zwischen Darwins und Smiths Definition von Wettbewerb. Adam Smith ist ja vor allem durch seine Theorie der unsichtbaren Hand berühmt geworden, der zufolge unpersönliche Marktkräfte, also eine unsichtbare Hand, das Verhalten eigennütziger, selbstsüchtiger Akteure so dirigiert, dass ihre Produkte zum größten Nutzen für die Gesellschaft führen. Dabei geht Adam Smith davon aus, dass Menschen die Vor- und Nachteile sämtlicher in Betracht kommender Handlungsoptionen sorgfältig und rational abwägen. Mehr noch: Sofern materielle Ressourcen für das Wohlbefinden der Menschen maßgeblich sind, zählt allein deren absolutes Einkommen.
Adam Smith vs. Charles Darwin
Im Gegensatz dazu war Charles Darwins Sichtweise von Wettbewerb eine andere. Seine Beobachtungen hatten ihn davon überzeugt, dass die Interessen einzelner Tiere häufig im Widerspruch zu den weitergehenden Belangen ihrer jeweiligen Gattung stehen können.
Tatsächlich ist die Eignung zur Fortpflanzung eine Fähigkeit, die zu überleben und zu prosperieren hilft. Doch muss ein Individuum dabei nicht das stärkste, schnellste oder geschickteste Exemplar der ganzen Gattung sein. Am Ende zählt, wie es sich gegen die Mitglieder seines sozialen Umfelds durchsetzt, die sich alle um die gleichen Ressourcen streiten. Um es im Sinne Darwins auszudrücken: Je besser die Durchsetzungsfähigkeit in diesem Wettstreit, desto größer sind nicht nur die Überlebenschancen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit, gut zu leben. Allerdings hat diese relative Durchsetzungsfähigkeit Grenzen. Und zwar in dem Augenblick, wenn man aus seinem sozialen Umfeld in einen größeren, wenn nicht gar globalen Kontext heraustritt.
Derartiges kann man, wie es Robert Frank so schön beschreibt, bereits in der Tierwelt finden. So konnten sich die männlichen Elche mit dem größten Geweih von jeher den Zugang zu den schönsten und vitalsten Elchkühen verschaffen, was zur Folge hatte, dass die Elchgeweihe im Laufe der Evolution immer größer geworden waren. Was jedoch innerhalb des Rudels einen relativen Vorteil bot, konnte für das Rudel als Ganzes im „Außenverhältnis“ hinderlich sein. Denn die Elche mit den prächtigen Schaufeln auf ihrem Kopf liefen eines Tages Gefahr, in einem dichtbewachsenen Wald ständig an den Ästen und Zweigen hängenzubleiben, so dass sie nicht schnell genug vor einem Feind fliehen konnten und außerdem häufig Verletzungen an ihrem Geweih davontrugen.[1]
Absolutes vs. relatives Bewerten
Auch Menschen neigen dazu, in ihrem sozialen Umfeld (also in der Konkurrenz mit anderen Menschen, mit denen sie sich in etwa vergleichen können) einen bestimmten Rang zu erarbeiten, um so etwa bei der Partnerwahl oder für die eigenen Kinder eine möglichst gute gesellschaftliche Ausgangsposition zu belegen – auch wenn es mir immer noch schwerfällt, dies als legitimes, weil naturgegebenes Streben zu akzeptieren. Daraus ergibt sich, dass es ein universelles menschliches Bedürfnis sein muss, sich permanent mit anderen zu vergleichen, um den eigenen Status in der Gesellschaft festzustellen. Insofern könnte man den sozialen Vergleich als evolutionsgeschichtlich in hunderttausenden von Jahren dem menschlichen Gehirn eingeschriebene Verhaltensweise sehen.
Das bedeutet aber auch, dass die Motive der Menschen im Gegensatz zu dem, was uns die Standardökonomie lehrt, weit vielschichtiger sind. Anscheinend geht es um mehr als immer nur darum, Gewinne zu maximieren. Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen: Wer nicht begreift, was Menschen tatsächlich bewegt und antreibt, kann auch nicht verstehen, wie Märkte funktionieren. Die Ökonomen haben versucht, Märkte zu modellieren, um sie zu entschlüsseln. Dabei waren sie naturgemäß zu starken Vereinfachungen gezwungen. Eine bestand darin zu unterstellen, dass Menschen stets nur auf ihren eigenen Vorteil aus seien und beim Sichern dieses Vorteils absolut rational vorgehen. Kein Wunder also, wenn Ökonomen davon ausgehen, dass der Grad der Befriedigung, den Menschen aus dem Verbrauch eines Gutes beziehen, allein von dessen absoluten Wert abhängt.
Doch die Realität sieht anders aus. Menschen bewerten relativ, also im Vergleich zu einem Umfeld, einem Referenzpunkt. So ist es unter anderem dem Ökonomen Fred Hirsch zu verdanken[2], wenn man mittlerweile zumindest ansatzweise anerkennt, dass es nicht nur eine Ökonomie der materiellen Güter wie Waschmaschinen, Autos, Häuser etc. gibt, die im Grunde einfach nur produziert werden müssen, um die Nachfrage nach ihnen zu befriedigen. Vielmehr bestehen neben diesen materiellen Dingen, mit denen sich die Standardökonomie beschäftigt, auch noch Güter, die außer ihrem unmittelbaren praktischen Nutzen einen zusätzlichen Wert besitzen. Denn sie verraten etwas über die Position, die jemand innerhalb der Gesellschaft einnimmt oder gerne einnehmen möchte. Man nennt sie daher auch Positionsgüter. Es ist daher das große Verdienst von Hirsch, als Erster eine Ökonomie der Position begründet und beschrieben zu haben. Was es damit genauer auf sich hat, erfahren Sie im nächsten Blog.
[1] Vgl. Frank, Robert (2011): The Darwin Economy: Liberty, Competition, and the Common Good, Princeton University Press
[2] Vgl. Hirsch, Fred (1991): Die sozialen Grenzen des Wachstums. Eine ökonomische Analyse zur Wachstumskrise Verlag Rowohlt