Von der Karotte vor der Nase geblendet
Angesichts des von der Deutschen Bank erwarteten Verlusts von über 6 Milliarden Euro im dritten Quartal, fragte mich ein Kommentator, warum dann der Kurs der Aktie dieses Hauses am Ende dennoch nicht eingestürzt sei. „Naja“ entgegnete ich und fuhr fast schon etwas sarkastisch fort: „die Anleger vermuten wohl, dass jetzt endgültig reiner Tisch gemacht wurde, neue Besen kehren gut sozusagen“. Aber der Kommentator ließ nicht locker: „Was haben denn die Investmentbanker dann noch für die über Jahre hinweg gescheffelten Boni – ebenfalls in Milliardenhöhe – nach diesem Verlust und all den Strafzahlungen per Saldo überhaupt noch geleistet? War das nicht eine Art von modernem Bankraub einer Minderheit zu Lasten einer großen Mehrheit der knapp 100.000 Mitarbeiter?“ – Ich schwieg, weil ich diese Rechnung lieber nicht aufmachen wollte. Auf dem Weg nach Hause, fiel mir dann die alte Geschichte über einen Investmentbanker ein. Und plötzlich wurde mir einer der Gründe klar, warum diese Mehrheit nie lautstark aufbegehrt hatte.
Ich erinnere mich noch gut, wie blass Steve (Name geändert)[1] damals aussah, als ich ihm bei einer Konferenz begegnete. Ich wagte kaum zu fragen, wie es ihm gehe. „Jetzt hat es mich vermutlich auch erwischt, zwei aus unserer Fünfergruppe müssen gehen“, erzählte er mir. Und er begann, in kurzen Zügen sein relativ langes Berufsleben zu schildern.
Hoffnung auf den großen Wurf
Und ich erinnerte mich daran, wie ich Steve als Trainee bei einer Großbank kennengelernt hatte. Ein junger Mann voller Motivation und Elan war er damals. Und er schien regelrecht an den Lippen seines Chefs zu hängen, der ein rosiges Bild hoher Einkommensmöglichkeiten und noch größerer Boni malte. Ja, das Investmentbanking sei ein Risikogeschäft, betonte er immer wieder, um sofort hinzuzufügen, dass diese Risiken adäquat entlohnt werden müssten. Eigentlich sollte der fixe Bestandteil eines Gehalts gerade auskömmlich zum Leben reichen. Umso höher könne man dann die Erfolgskomponente des Einkommens gestalten. Kurzum: “Wenn Du risikoscheu bist, bist Du im falschen Job“. Es klang, als hätte sich Steve in der Bank der unbegrenzten Möglichkeiten befunden.
Monate später telefonierten wir miteinander. Und Steve erzählte mir vom ersten Bonus-Tag, den er erleben durfte – aus dem Trainee war ein richtiger Sales-Profi geworden. Nach einem Jahr gab es die erste Bonus-Ausschüttung, an der Steve angemessen, aber alles andere als großzügig beteiligt worden war. Dasselbe galt mehrheitlich auch für seine Kollegen. Nur zwei von ihnen hatten Glück gehabt und das große Los gezogen. Offensichtlich waren sie nach dem Zufallsprinzip reich belohnt worden, denn ihre Performance hatte – so meinte Steve – nicht wirklich überzeugt. Aber es sollen ja auch weiche Faktoren bei der Beurteilung berücksichtigt werden. Jedenfalls hatten die beiden einen Superbonus bekommen, der ein Mehrfaches der durchschnittlichen Erfolgsprämie in der Abteilung betragen haben musste, wie mir Steve versicherte. Das zumindest wollte er einem „vertraulichen Gespräch“ in der Herren-Toilette, das er zufällig belauscht hatte, entnommen haben.
Vor Dir sitzt ein Gewinner
Steve stellte fest, dass er noch lange nicht an seine Grenzen gestoßen war. Bei einem Offsite-Wochenende – einmal im Jahr traf sich die ganze Abteilung in der Abgeschiedenheit eines Wellness-Hotels – lernte Steve, worauf es wirklich ankam: Auf die „total dedication“, die vollkommene Hintanstellung der eigenen Interessen zugunsten der des Arbeitgebers. Wenn es sich bis dahin noch um ein normales Commitment gehandelt haben mag, konnte man spätestens jetzt von einem eskalierten Einsatz sprechen, stets verbunden mit der Hoffnung, dass am Ende als Belohnung vielleicht der Superbonus winkte.
Im dritten Jahr hatte es Steve dann geschafft. Als wir uns zum Essen trafen, blickte er mir triumphierend ins Gesicht: „Dir gegenüber sitzt ein Gewinner.“ Mit diesen Worten begrüßte er mich. Selbstverständlich beglich er an diesem Abend die Rechnung.
Seither habe ich Steve aus den Augen verloren.
[1] Die Geschichte ist teilweise einem Blog vom Februar 2011 (Carlos‘ Kurve) entnommen