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3. Juli 2013

Unlängst hatte ich einen Beitrag mit dem Titel Die Börse und das Böse Teil III geschrieben. Dabei ging es wieder einmal um mögliche Parallelen zwischen den klassischen sieben Todsünden und der  Behavioral Finance sowie darum, ob diese „Sünden“ eventuell das Entscheidungsverhalten der Teilnehmer an den Finanzmärkten beeinflussen könnten. Es zeigte sich, dass die Todsünde „Trägheit“ in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielt, weshalb ich noch einmal gesondert darauf eingehen möchte.[1]

In der Behavioral Finance würde man in erster Linie von einer Trägheit bei Entscheidungen sprechen, und diese kann sich sowohl an den Finanzmärkten als auch im Privatleben fatal auswirken. So empfinden viele Menschen eine große Aversion dagegen, überhaupt Entscheidungen zu treffen – am liebsten würden sie sich ganz davor drücken, aber primär nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil sie davor zurückschrecken, Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidung zu übernehmen und überhaupt irgendein Commitment einzugehen. Wenn überhaupt, dann treffen sie bestenfalls Entscheidungen, mit denen sie ohnehin den gesellschaftlichen Normen und Moden entsprechen. Daraus ergibt sich auch eine gewisse konservative Haltung, die Neigung, alles so zu belassen, wie es ist. In der Behavioral Economics spricht man auch von der so genannten Status-quo-Bias.

 

Entscheidungsträgheit bei hohen Einsätzen

Entscheidungsträgheit stellt sich vor allem dann ein, wenn es um hohe Einsätze, um ein hohes Commitment geht. Doch sollte man dabei generell zwischen Gewinn- und Verlustsituationen unterscheiden. Denn die meisten Menschen zeigen sich, wenn es um Gewinne geht, wesentlich entscheidungsfreudiger – schließlich winkt auf der anderen Seite auch eine greifbare Belohnung. Umgekehrt verhält es sich bei Verlusten, die per se nicht nur die Bindung, das so genannte Commitment einer Entscheidung erhöhen, sondern die man naturgemäß auch nicht gerne realisieren möchte. Da ist Entscheidungsträgheit durchaus verständlich, aber dennoch manchmal mit katastrophalen Konsequenzen verbunden.

Dramatisch wird Trägheit vor allen Dingen in extremen Situationen, wenn man so hohe Verluste aufgehäuft hat, dass man sie materiell oder moralisch kaum mehr rechtfertigen kann. Bis zur Kapitulation sind es im übertragenen Sinne nur noch wenige Meter. Trotzdem versuchen die meisten Menschen selbst hier, weitere Entscheidungen möglichst zu umgehen. Wenn man Anleger fragt, was sie lieber erleben möchten: Am Extrempunkt, am ungünstigsten Punkt einer Bewegung, einen Verlust zu realisieren oder nichts zu tun, werden sich die meisten für das Nichtstun entscheiden. Denn das Schlimmste, was einem passieren könnte, wäre, dass sich die Kapitulationsentscheidung auch noch als falsch herausstellt und die Kurse etwa nach dem Verkauf verlustbringender Aktien anschließend wieder nach oben gehen. Das würde man dann zusätzlich bedauern müssen.

Zur Entscheidungsträgheit gehört natürlich auch die so genannte Prokrastination, das Aufschieben von unangenehmen Entscheidungen. In der Gegenwart wird die Realisierung eines Verlustes vermieden oder auch ein Verzicht nicht geleistet, selbst wenn man weiß, dass Handeln langfristig profitabler oder gesünder wäre als Aussitzen. Zudem wird ein in der Zukunft liegender Gewinn oder Verlust von den Menschen mit abnehmender Sensitivität – und zwar wesentlich stärker, als man sich das vorstellen kann – wahrgenommen, sprich diskontiert. Klar, dass man heute als Raucher nicht gerne auf eine Zigarette verzichtet, obgleich dies langfristig gesünder ist; sich zu sagen: „Morgen höre ich auf!“ fällt dagegen viel leichter. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Kalorienverbrauch für Übergewichtige oder aber auch mit dem Konsumverzicht in der Gegenwart zu Gunsten einer gesicherten Altersvorsorge in der Zukunft.

 

 

Religion als Hilfestellung

Mit welcher Tugend könnte man der Todsünde der Trägheit begegnen? Den sieben Lastern wurde im Mittelalter immerhin ein Katalog himmlischer Tugenden (nach Aurelius Prudentius) gegenübergestellt. Gegen Faulheit soll demnach eine Portion Fleiß helfen. Heute sollte man vielleicht Fleiß durch Disziplin ersetzen. Und Disziplin erreicht man vor allen Dingen durch Pläne, aber, was noch wichtiger ist, vor allem auch durch deren Einhaltung. Mehr noch aber sollte man stets im Auge behalten, was einen langfristig glücklich machen könnte. Denn in mehreren Studien konnte nachgewiesen werden, dass sich nicht zu entscheiden kurzfristig zwar als angenehmer empfunden wird, als eine Entscheidung zu treffen, langfristig sich aber derjenige glücklicher fühlt, der ein Problem angepackt hat, statt nichts zu tun.

Einen strukturierten Handlungsplan bietet übrigens auch die Religion, von der der Kanon der Todsünden ja ursprünglich stammt. Auch setzt die Religion andere Referenzpunkte, bietet einen Neubeginn an sowie, gerade in einer Zeit der Orientierungslosigkeit, ein Gerüst der Traditionen und der immer wiederkehrenden Feiertage. Und gerade diese können für Entscheider in jedweder Hinsicht einen Freiraum eröffnen, um innehalten und mit den erlittenen Verlusten Frieden machen zu können.



[1] Dieses Thema war am 28. Juni 2013 Gegenstand des dritten Teils einer Trilogie für WGZ cognitrend WebTV

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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