Behavioral Living

Rolltreppe Nummer 6

am
20. Mai 2014

Es gibt Dinge, die regelmäßig für Verstimmung bei einem sorgen, auch wenn andere darüber sagen, es sei doch vollkommen überflüssig, sich darüber aufzuregen. Und Kenner der Behavioral Economics würden außerdem kopfschüttelnd anmerken, man könne sich doch gerade an regelmäßig auftretende Dinge, auch wenn sie unangenehm sind, mit der Zeit so sehr gewöhnen, bis sie einem irgendwann nichts mehr ausmachten. Offensichtlich bin ich jedoch aus einem anderen Holz geschnitzt, auch wenn ich mich eigentlich nicht für pingelig halte.

Bei meinem ständig wiederkehrenden Ärgernis handelt es sich um eine Rolltreppe an der U-Bahn-Station „Zoo“ in Frankfurt, genauer gesagt um die Rolltreppe Nummer 6, wobei diese selbst mich natürlich nicht empört, sondern vielmehr der Umstand, dass diese Rolltreppe in schöner Regelmäßigkeit, vornehmlich am Wochenende, mir ihren komfortablen Dienst versagt. Und zwar immer dann, wenn ich freitagabends, manchmal aber auch am Samstagvormittag, mit meinem randvollbepackten Einkaufstrolley aus der U-Bahn aussteige und nach oben gelangen möchte. Rolltreppe Nummer 6 ist wie ihre anderen Genossinnen eine von denjenigen Treppen, die sich energiesparend nach einer gewissen Zeit der Nichtbenutzung von selbst abschalten und nur bei Bedarf wieder ihren Dienst aufnehmen. Außerdem gehört sie zur Gruppe derjenigen Exemplare, deren Betriebsbereitschaft durch eine kleine Ampel angezeigt wird. Wobei ich bei „Rot“ gar nicht automatisch rot sehe, denn es stellt mich nicht vor größere logistische Probleme, mit meinem schwerbepackten Wagen schlichtweg einen anderen Aufgang zu wählen.

 

Bei „Grün“ rot gesehen

Richtig gemein wird es allerdings, wenn die Ampel „Grün“ anzeigt und sich die Rolltreppe bei Betreten trotz mehrfachen Bespringens der Kontaktplatte dennoch nicht in Bewegung setzen will. Als ob sie mich absichtlich in die Irre habe führen wollen und mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen angelockt habe: „Ätsch, reingefallen. Jetzt musst Du doch selbst die Treppen emporsteigen.“ Und obwohl der Aufwand, eine andere Rolltreppe oder den Aufzug zu nehmen, nicht größer ist, als wenn das rote Licht geleuchtet hätte, ärgert mich diese Situation ganz besonders und jedes Mal von neuem. Erst das verheißungsvolle grüne Licht und dann die nicht funktionierende Rolltreppe fühlen sich für mich so an, als ob ich etwas in Aussicht gestellt und dann doch nicht bekommen hätte. Anscheinend bewerte auch ich Verluste immer noch stärker als Gewinne in gleicher Höhe. Und gewöhnen kann ich mich an diesen Umstand auch bislang nicht.

Immerhin hatte ich mich – vermutlich im Unterschied zu den vielen anderen fluchenden Passanten, denen ich an jedem Wochenende am Fuße von Rolltreppe Nummer 6 begegne – kürzlich sogar dazu durchgerungen, die Telefonnummer zu wählen, die man für den Fall einer Störung an der Rolltreppe anrufen soll. Tatsächlich: Dort nahm sogar an einem Freitagabend jemand das Telefon ab. Das hätte ich nicht erwartet. Aber die Hoffnung, meinen Groll endlich loswerden zu können, wurde schnell getrübt. Denn die Dame am anderen Ende war zwar für die Störungsannahme und -weitergabe verantwortlich, bedeutete mir aber unmissverständlich, für Beschwerden müsste ich eine andere Telefonnummer wählen, am besten nach dem Wochenende.

Ob ich mich dazu je aufraffen werde? Aber wäre ein Leben ohne diese kleinen Ärgernisse womöglich nicht auch ein wenig langweilig?

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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