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Relative Verstrahlung

am
29. März 2011

Wenn jemand die Einwohner Tokios am Tage des schrecklichen Tsunami informiert hätte, dass ihre Stadt in weniger als zwei Wochen von einer nuklearen Wolke heimgesucht, die Trinkwasserversorgung stark beeinträchtigt und die Lebensmittel radioaktiv verseucht sein würden, wären wir vermutlich Zeugen des größten Exodus der Menschheitsgeschichte geworden. Obwohl all diese Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, ist es dennoch nicht zu einer Massenflucht gekommen. Stattdessen sind die 13 Millionen Einwohner der Stadt eines Tages aufgewacht und mussten aus den Nachrichten erfahren, dass es womöglich verstrahlte Niederschläge geben könne, und welche Maßnahmen sie ergreifen sollten um das Schlimmste zu vermeiden.

Das jeweils ganz unterschiedliche Ergebnis beider Szenarien lässt sich gut mit den menschlichen Gewöhnungsprozessen (Adaption) erklären. Hätten die Menschen tatsächlich die Folgen des Tsunami von Vornherein gekannt, hätten sie höchstwahrscheinlich instinktiv die Flucht ergriffen und alles, was sie nicht hätten transportieren können, stehen und liegen gelassen, um wenigstens ihre Gesundheit zu retten.

Dennoch hat es eine derartige Fluchtbewegung nicht gegeben. Das mag daran gelegen haben, dass sich nach einem anfänglichen durchaus schweren Schock die Lage der Einwohner Tokios nur noch graduell verschlechtert hat. Anders ausgedrückt: Menschen empfinden den Widerwillen gegen eine bestimmte Situation nicht als absolute Größe, sondern relativ. Wer also gestern auf ein extrem negatives Erlebnis nicht mit Flucht reagiert hat, wird sich genau überlegen, ob er heute wegen einer weiteren leichten Verschlechterung der Lage die Koffer packt. Um dieses Phänomen etwas besser erklären zu können, bedienen sich die verhaltensorientierten Ökonomen der Legende des kochenden Frosches. Ein Frosch, der in heißes Wasser geworfen wird, wird sofort versuchen wieder herauszuspringen. Wenn man das arme Tier indes in kaltes Wasser setzt und es nur peu à peu erhitzt, wird es in aller Ruhe hinnehmen, wie man es langsam zu Tode kocht.

Unterdessen fielen die Nachrichten für Tokio jeden Tag ein bisschen schlechter aus. Dennoch wird versucht, die Lage nur als halb so schlimm zu verkaufen. So hat der Anteil radioaktiven Jods im Leitungswasser zwar das Doppelte des empfohlenen Richtwertes für Babys und Kleinkinder überschritten, gilt aber für Erwachsene und ältere Kinder immer noch als unproblematisch. Derweil wurde die Sicherheitszone in Fukushima von 20 auf 30 km ausgeweitet und Japans Nuklearbehörde hat die Gefahrenstufe des dortigen nuklearen Unfalls von fünf auf sechs (sieben ist die höchste Stufe) auf der INES-Skala[1] angehoben. Ein Ende ist nicht abzusehen.


[1] INES = International Nuclear Event Scale, Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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