Märkte Wirtschaft

Ökonomen im Schnee

am
26. Januar 2011

Nicht nur in Deutschland hat es im Dezember des vergangenen Jahres außergewöhnlich viel geschneit. Auch die Engländer litten unter diesen teils extrem ungünstigen Wetterbedingungen. Während man hierzulande allerdings gerade in Hinblick auf die Bahn gerne von Versagen spricht und intensiv nach Schuldigen für die Zugverspätungen sucht, scheinen die Engländer mit derlei Problemen etwas humorvoller umzugehen. Es hat ganz einfach „die falsche Sorte Schnee“ geschneit. Dies war zumindest die Entschuldigung eines Sprechers der britischen Eisenbahngesellschaft, als eine Schneefräse vor ein paar Jahren bereits nach einer kleineren Menge Schneefalls ihren Dienst versagte, so dass die Schienen nicht geräumt werden konnten. Ja, mittlerweile steht diese nette Ausrede für alles, was in England wegen ein paar Schneeflocken nicht mehr funktioniert. Jetzt aber hat das Schnee-Phänomen sogar die Ökonomen erreicht. Denn die Experten einer Reuters-Umfrage hatten für das vierte Quartal 2010 für Großbritannien ein Wachstum von durchschnittlich 0,5 Prozent prognostiziert. Wie wir gestern erfahren haben lagen sie um einen Prozentpunkt daneben, weil die britische Wirtschaft, statt zu wachsen, um 0,5 Prozent geschrumpft ist.

Immerhin räumte das Office for National Statistics ein, der starke Schneefall im Dezember hätte ein halbes Prozent Wachstum gekostet, so dass ohne die extremen Wetterbedingungen immerhin noch ein Nullwachstum übrig geblieben wäre. Will sagen: Selbst wenn die Experten im Winter aus dem Fenster gesehen und des Schneetreibens gewahr geworden wären, hätten ihre Prognosen immer noch kräftig danebengelegen. Nun kann man natürlich einwenden, dass es sich bei der jüngsten Wachstumszahl um ein vorläufiges Datum handelt, das möglicherweise noch revidiert werden muss. Aber nicht zwangsläufig nach oben. Und so wundert es nicht, wenn viele Akteure sich die Frage stellen, wie die Experten so falsch liegen konnten.

Tatsächlich sind die meisten dieser so genannten Experten überhaupt keine Analysten. Denn nur die wenigsten dürften sich die Mühe gemacht haben, selbstständig die entsprechenden Daten zusammenzusuchen und unabhängig auszuwerten. Das wäre nämlich angesichts knappen Personals und zusammengestrichener Etats viel zu viel Arbeit gewesen. Stattdessen hat man vielerorts einfach die am leichtesten verfügbare Wachstumsrate als Referenzpunkt für die eigene Vorhersage gewählt und diese gegebenenfalls während des Quartals adjustiert. So ein leicht verfügbarer Referenzpunkt war etwa die Wachstumszahl des vorherigen oder der Durchschnittswert der vergangenen vier Quartale, also 0,7 Prozent. Nachdem diese Daten während der vergangenen Monate unter dem Strich eher schlechter als erwartet ausgefallen waren, musste man jene Zahlen natürlich adjustieren. Fragt sich nur, um wie viel.

Auch hier orientieren sich die Auguren gerne an Erfahrungswerten. Tatsächlich haben sich die Schwankungen der vierteljährlichen BIP-Zahlen nach den volatilen Zeiten Ende 2008 und Anfang 2009 mittlerweile wieder auf ein Niveau eingependelt, das auch schon vor der Finanzkrise galt: Eine Varianz (Streuung) von 0,5 Prozent plus minus ein Viertelprozent.

Ein pessimistischer Experte hätte also ein Wachstum von etwa 0,2 Prozent[i] prognostizieren können, und besonders pessimistische Zeitgenossen wären mit dieser Faustregel nach Abzug eines weiteren Viertelprozents auf ein Nullwachstum gekommen. Aber warum sollte man so pessimistisch sein, wenn alle Welt eher von einem leichten Wachstumsanstieg ausgegangen war? Zumal selbst unter Finanzexperten Spielverderber nicht sonderlich beliebt sind.

Aber Experten sind auch nur Menschen und verfügen daher nur über begrenzte physische und geistige Ressourcen. Sie haben eigentlich nichts falsch gemacht, denn sie sind mit ebendiesen Ressourcen „ökonomisch“ umgegangen. Sie wurden nach treffsicheren Vorhersagen gefragt, ohne dass man ihnen das dafür erforderliche Werkzeug zur Verfügung gestellt hätte. Auf sich selbst bezogen haben die Experten also effizient gearbeitet, nicht aber was die Finanzmärkte angeht.


[i] =  Referenzpunkt Vorquartal 0,7 Prozent, abzüglich 0,5 Prozent Streubreite

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1 Kommentar
  1. Antworten

    angelika

    28. Januar 2011

    Da bin ich aber erleichtert, dass es den Schnee gibt, damit er wachse und die Wirtschaft ihre „Ausflüchte“ findet. Vielleicht sollte die Wirtschaft eine neue “ Wirtschftsmaschine“ finden, dann kann auch der Schnee wieder schmelzen.
    Wisst ihr was ich am besten finde in diesen Zeiten, das alle nach dem „Schuldigen“ suchen und keiner findet ihn.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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