Behavioral Living Märkte

Dinner for One

am
24. Januar 2011

Ich staunte nicht schlecht, als ich unlängst einen Depot-Jahresauszug meiner Bank zugeschickt bekam und dort las, dass ich noch 40 Anteile einer Aktiengesellschaft namens Infineon besaß. Ich, der also schon seit über einer Dekade aus Prinzip nicht mehr mit Aktien handelte, hatte tatsächlich noch etwas, was man landläufig als Depotleiche bezeichnet. Und so langsam dämmerte es mir auch, warum ich mein Engagement über all die Jahre vergessen hatte.

Und dann nahm ich mir einen Infineon-Chart vor. Ja, ich hatte bei einer dieser Emissions-Lotterien im Jahr 2000 richtig Glück gehabt, denn ich wurde vom Börsenschicksal mit einer Zuteilung bedacht. Bereits am Emissionstag konnte ich einen Super-Buchgewinn von mehr als 100 Prozent erzielen. Aber ich wollte damals ja schlauer als die anderen sein und habe deshalb nicht wie viele meinen Gewinn gleich am ersten Tag realisiert. Man schrieb den 13. März 2000, es war kurz nach dem damaligen Allzeithoch im Aktienmarkt und dem Höhepunkt der DotCom-Blase.  Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wissen konnte: Bis heute hat Infineon das bisherige Hoch von 84 € von jenem Tag nicht wieder erreicht.

Genau diese 84 € sollten in den kommenden Monaten mein Problem, sprich mein Referenzpunkt sein – anders ausgedrückt: Seit jenem Tag befand sich mein Engagement im Verlustbereich. Nicht dass ich seither versucht hätte, etwaige Dissonanzen mittels sehr selektiver Wahrnehmung von Informationen zu verdrängen. Eigentlich brauchte ich gar keine Informationen, denn ich hatte ja diesen netten Kollegen, der in schöner Regelmäßigkeit, so alle paar Wochen,  mit nur schlecht verborgener Häme fragte: „Na, was machen denn Deine Infineon?“ Das markierte dann jedes Mal einen Tiefpunkt – auf der Skala meines Selbstwertgefühls und auf dem Chart mit dem Infineon-Kurs. Ich versuchte dann gar nicht erst zu argumentieren, sondern bemühte mich, meine Beschämung mit einem diskreten Lächeln zu überspielen. Stopp-Loss? Was war das? In meiner Welt kam dergleichen nicht mehr vor. Heute noch treibt es mir eine peinliche  Röte ins Gesicht, wenn ich daran denke, dass ich damals einen der „kapitalen“ Fehler an der Börse begangen hatte, indem ich mir keine Verlustbegrenzung gesetzt hatte. Und so begann ich mit der Zeit, einfach wegzusehen, statt dieses Elend endlich zu beenden.

Die Jahre vergingen. Ich bekam gar nicht mehr mit, wie 2009 die einst 84 € auf etwas mehr als drei Euro zusammengeschmolzen waren. Aber Sie werden staunen, wie sehr ich mich neulich über die längst vergessenen 40 Infineon- Aktien auf meinem Depotauszug gefreut habe. Interessanterweise fühlte ich mich nicht wie ein Verlierer, sondern angesichts des unerwarteten Profits gegenüber dem Allzeittief aus 2009 fast schon wie ein Gewinner. Ohne Reue trennte ich mich sofort von diesen Wertpapieren und konnte diese immerhin zu einem Kurs von mehr als sieben Euro verkaufen. Und dieser unverhoffte Gewinn nach einer mehr als zehnjährigen Exkursion bescherte mir dann nach Abzug horrender Kosten noch ein herrliches Abendessen samt einer halben Flasche wunderbaren Weines. Leider nur für mich alleine.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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