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24. September 2015

VW drohen Strafen in Milliardenhöhe, mancherorts ist bereits die Rede von 18 Milliarden US-Dollar. Egal, wie hoch am Ende der Betrag sein wird, den VW zahlen muss, weil die US-Umweltbehörde EPA (Environmental Protection Agency) dem Autobauer vorwirft, bei der Ermittlung von Abgaswerten seiner Dieselfahrzeuge manipuliert zu haben – die zur Diskussion stehende Größenordnung erinnert durchaus an die Skandale im Investmentbanking. Und wenn in der heutigen Ausgabe der „Financial Times“ John Gapper in seiner Kolumne die drei gefährlichsten Wörter im Geschäftsleben: „Jeder macht das“ zitiert, zeigt dies, dass die für den Skandal Verantwortlichen möglicherweise gar kein Bewusstsein dafür haben, etwas Unrechtes getan zu haben. Abgesehen davon, haben bereits schon vor VW auch andere Autohersteller durch kleinere oder größere Tricksereien dafür gesorgt, dass Dieselfahrzeuge ihrem Ruf, umweltfreundlich und niedrig im Kraftstoffverbrauch zu sein, gerecht wurden. Auch ist die Autoindustrie nicht allein, wenn es darum geht, Vorschriften und Regeln großzügiger als von ihren Erfindern gedacht auszulegen.

Einer fängt ganz klein damit an, und der harte Konkurrenzkampf, Kostendiktate oder auch interne Belohnungssysteme sorgen dafür, dass so ein unethisches Verhalten salonfähig wird. Und weil das alle tun, weil es scheinbar zur sozialen Norm wird, bekommen solche Tricks sogar den Anstrich des Legalen. Mit anderen Worten: Wie Menschen ihr eigenes Verhalten moralisch bewerten, hängt stark von den sozialen Normen ab, die in ihrem Umfeld herrschen. Deswegen wird auch niemand seine Handlung als unethisch empfinden, wenn er stets nur macht, was alle anderen auch tun.

 

Overconfidente Sünder?

Problematisch wird es allerdings, sobald die Öffentlichkeit Wind davon bekommt. Schnell ist man dann – und auch meine erste Reaktion fiel ähnlich aus – mit Kommentaren zur Hand: „Wie kann man denn so blöde sein und glauben, nicht erwischt zu werden?“ Auch mag man aus verhaltensorientierter Sicht schnell dazu bereit sein, den Beschuldigten nachzusagen, sie seien in dem Vertrauen darauf, nicht erwischt zu werden, wohl etwas zu overconfident (= ein zu starkes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten) gewesen. Aber diese Sichtweise mag zu kurz greifen.

Tatsächlich geht es um die unterschiedliche Wahrnehmung dessen, was ethisch korrekt ist. Diese Bezugspunkte sind nämlich bei den Sündern andere als bei denjenigen, die sie erwischen und am Ende verurteilen. So mag es schon im Testlabor anfangen, wenn möglicherweise nicht ganz vorteilhafte Ergebnisse ein bisschen geschönt werden, um vor dem Chef gut dazustehen. Und es mag auch verständlich sein, wenn man mit möglichst geringen Kosten gesetzliche Vorschriften erfüllen möchte. Diese kleinen Verfehlungen, die sich mit der Zeit zu großen Sünden auswachsen können, werden von den Betroffenen manchmal sogar unbewusst und erst recht ohne schlechtes Gewissen begangen. Eigentlich müssten Gewissensbisse doch mit der Größe der Verfehlung mitwachsen. Stattdessen bewegt sich der Bezugspunkt, der die Grenze zwischen Recht und Unrecht markiert, mit der Akzeptanz innerhalb des eigenen sozialen Umfelds, etwa innerhalb des Unternehmens, in dem man beschäftigt ist.

 

Relativ schlechtes Gewissen

Dieser Bezugspunkt, die Grenze zwischen Recht und Unrecht, stellt sich für Außenstehende ganz anders dar, weil er sich für sie in der Zwischenzeit nicht bewegt hat. Stattdessen gehen diese davon aus, dass Recht und Gesetz eingehalten werden, sie nehmen, wenn ein Gesetzesbruch aufgedeckt wird, für sich eine absolute Moral in Anspruch, während die Sünder im Laufe der Zeit ihre eigenen moralischen Ansprüche relativiert haben.

Ethik kommt immer dann ins Spiel, wenn Verluste entstanden sind, weil jemandes Verhalten unterhalb des allgemeingültigen Standards der sozialen Normen einer Gesellschaft als Ganzem liegt. Um solche Situationen zu vermeiden, genügt es jedoch nicht, sich auf Vorschriften und Regulierungen zu verlassen. Vielmehr müssen wir erkennen, dass es keine absolute Moral gibt. Außerdem sollten wir zu verstehen versuchen, warum Menschen unter bestimmten Bedingungen Dinge tun, die sie selbst nie für möglich gehalten hätten. So ließe sich Fehlverhalten besser bekämpfen – ein Ziel, dem sich die so genannten Behavioral Ethics verschrieben haben.

Situationsabhängige Einflussfaktoren, die schleichende Veränderung von Normen im Laufe der Zeit können übrigens uns alle korrumpieren.

 

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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