Politik Wirtschaft

Mentale Fehlbuchung

am
31. Oktober 2011

Nun sind also kurz vor Wochenschluss plötzlich 55,5 Milliarden Euro aufgetaucht, eine Fehlbuchung, wie es heißt, und das ausgerechnet in der eher für hohe Verluste berüchtigten Hypo Real Estate (HRE) bzw. der von ihr abgespaltenen Bad Bank. Man könnte auch sagen, die Steuerzahler hätten aus dem Nichts einen Gewinn von 55,5 Milliarden Euro erhalten – ein Betrag, der die Schuldenquote Deutschlands deutlich schrumpfen lässt. Nun möchte ich nicht darüber rätseln, wie es zu einer derartigen Schlamperei kommen konnte oder wer dafür verantwortlich sein mag. Auch nicht über das seltsame Gefühl, das mich befiel, weil derartige Fehlbuchungen ja auch in Gestalt eines riesigen Verlustes auftauchen könnten.

Ich kann mich aber noch gut daran erinnern, wie ich kurz nach Abschluss der Bankgehilfenprüfung ein paar Wochen als Kassierer in einer Zweigstelle aushelfen musste. Das erste, was ich damals über Kassendifferenzen lernte, war der Spruch meines Chefs, dass positive Differenzen beim Abschluss genauso schlimm seien wie negative. Diese Erkenntnis scheint sich auch bei den meisten Kommentatoren im Falle der HRE durchgesetzt zu haben. Allerdings ist diese gleichartige Bewertung von Gewinnen und Verlusten reine Theorie – die Praxis ist eine andere. So sehr wir uns auch bemühen, dennoch bleiben diese 55,5 Milliarden Euro ein so genannter Windfall Profit, ein Gewinn, mit dem man nicht rechnen konnte und mit dem man zudem risikofreudiger als mit „normalen“ Gewinnen umgeht.[1] Und so wundert es auch nicht, dass ich gestern in dem von mir sehr geschätzten Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Kasten fand, in dem bereits Überlegungen darüber angestellt wurden, was man denn mit einem so schönen Betrag alles anstellen könnte. Das erinnert mich an eine Freundin, deren Konto bis aufs Äußerste überzogen war. Als sie eines Tages in den Tiefen ihrer Schreibtischschubladen zufällig längst vergessene 500 Euro fand, schwor sie sich, diese sofort zur Schuldentilgung zu verwenden. Sie können sich vorstellen, dass meiner Freundin dieses Vorhaben nicht ganz gelungen ist. Denn angesichts des Glücksgefühls, etwas wiedergefunden zu haben, von dem sie gar nicht mehr wusste, dass sie es besaß, musste sie sich einfach ein neues Paar Schuhe gönnen.

Ich fürchte, auch im Falle der 55,5 Milliarden Euro der HRE, die ja einst mit vielen Milliarden aus Steuermitteln gestützt und letztlich verstaatlicht werden musste, könnte sich bei den Entscheidern eine ähnliche mentale Kontoführung wie bei meiner Freundin durchsetzen und damit Begehrlichkeiten entstehen, die allerdings wohl kaum in eine Subvention des Schuhhandels münden dürften. Auch wenn fast schon scheinheilig behauptet wird, der Finanzminister bekomme von dem seltsamen Fund keinen einzigen Cent ab, zumal die Finanzierung der Bad Bank der HRE über einen Sonderhaushalt geführt werde, bleibt dennoch die Tatsache bestehen, dass das deutsche Staatsdefizit um diesen Betrag abnimmt. Kein Wunder, wenn die Rückführung der Schulden womöglich trotzdem nicht ganz so wie geplant ausfallen .



[1] Tatsächlich verhalten sich die meisten Menschen im Gewinnbereich tendenziell risikoavers und versuchen, Gewinne möglichst schnell zu realisieren. Bei einem Windfall-Profit neigen indes viele Menschen zu Risikofreude.

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6 Kommentare
  1. Antworten

    Sandro Valecchi

    31. Oktober 2011

    Alles dreht sich um das zentrale Thema Glaubwürdigkeit. Günter Jauch stellte sich jetzt diesem überaus kritischen Thema in seiner Talk-Runde vom Sonntag, 30.10.2011. Mit dabei: das Deutsche-Bank-Urgestein, Hilmar Kopper, vormals Chef der Deutschen Bank, der allen Bedenken und Einwendungen zum Trotz seine Kollegen vehement zu verteidigen versuchte, insbesondere dabei auch gerne in der Sache auf Verharmlosungen bedacht war. Kopper verwahrte sich dagegen, ausgerechnet die Banken als „Zocker und Absahner“ auf den Finanzmärkten abzuqualifizieren: „Was sollen wir denn machen, wir sind das ausführende Organ! Wenn jemand von uns will, dass wir Credit Default Swaps (Ausfallversicherungen, die durch sog. Leerverkäufe nahezu unkontrollierbar ganze Staaten und Märkte ins Wanken brachten) kaufen – dann tun wir das auch!“, konstatierte Kopper.

    „Das erinnert mich unwillkürlich an „Margin Call“, den Finanz-Thriller mit 100%igen Bezug zur Wirklichkeit um die Abgründe der Finanzkrise und das Ende einer Investment-Bank“, sagt Analyst Sandro Valecchi. Mit „Margin Call“ hat das kritische Hollywood mit Anspruch auf Qualität und einer „True Story“ sich dem Fanal um das Ende der Lehman Investmentbank-Bank im Höhepunkt der internationalen Banken- und Finanzkrise gestellt und Realität mit filmischer Darbietung gelungen verknüpft. Die Realität: Am Wochenende vom 12. bis 14. September 2008 besiegeln in New York die mächtigsten Finanzführer der Welt das Ende der angeschlagenen Investmentbank Lehman Brothers. Anfangs ahnte niemand, dass sie damit die Weltwirtschaft in den Grundfesten erschüttern werden. Richard Fuld, CEO und damit erster Mann bei Lehman, hatte die Lage völlig verkannt und in entscheiden – wirklich existenziell wichtigen Momenten – völlig falsch gehandelt. Der Film „Margin Call“ thematisiert die Finanzkrise des Jahres 2008 und knüpft mit seinen Charakterdarstellern dort an, wo die Mitarbeiter und Entscheider getriebene der Krise wurden. Im Focus der Kameraführung stehen die letzten 24 Stunden vor der objektiv unabwendbaren Katastrophe. Der Analyst Peter Sullivan stellt fest, dass die Bewertungen der Hypotheken seiner Investmentfirma ganz erheblich fehlerhaft, mit sog. Toxischen Papieren ohne hinreichende Sicherheiten überladen sind und die Investment-Bank am Rand des Ruins steht. Die Verantwortlichen der Firma, Buchalter Sam Rogers (gespielt von Charakterdarsteller Kevin Spacy), Jared Cohen, Sarah Robertson und John Tuld (mit klarer Anspielung auf Lehman-Chef Fuld, gespielt von Jeremy Irons) beschließen, diese „toxischen Papiere“ abzustoßen und bringen damit den Stein ins Rollen, der für die internationale Finanzwelt und letztlich auch für sie selbst verheerende Folgen hat. Die perfekte Schlüsselszene ist die ebenso ernüchternde, rhetorische Frage des Chef-Buchhalters:

    „Wann haben wir damit begonnen, die Kontrolle (Übersicht) zu verlieren?“

    Zwischen Talk-Star G. Jauch und „Margin Call“ legt jetzt auch noch die Bundesregierung, respektive der Verantwortungsbereich im negativen Sinne nach, der mit den Bilanzen und der Buchhaltung der Skandal-Bank Hypo Real Estate (HRE) zu tun hat.

    Bilanzirrtum in Höhe von 55,5 Milliarden Euro zulasten der Bundesrepublik Deutschland und das auch noch in einer der mit Abstand schwersten Krisen der EU, in der es um alles oder nichts geht, sein oder nicht sein und um die Zukunftsfähigkeit der ersten Einheitswährung der Euro-Zone. Der Bundesminister der Finanzen, Dr. Schäuble, tobt und verlangt postwendet Aufklärung vom Management der HRE. „Zu Recht“, meint Analyst Sandro Valecchi, „nicht nur, dass die HRE von der Bundesrepublik und damit vom Steuerzahler gerettet werden musste, auch die Bilanzen dürften ein Fiasko darstellen.“

    „Wir reden hier von einer Bank“, kommentiert verärgert Analyst Sandro Valecchi. „Bislang gilt und galt in Deutschland der blinde Glaube an die Redlichkeit und Integrität von Bank-Auskünften, die ja von zahlreichen Behörden und Ämtern genutzt werden. Sogar die Gerichte neigen – leider rechtsirrig – dazu, den Banken fast blindlings alles zu glauben und das ist ein fataler Fehler“, resümiert Herr Valecchi.
    „Mein Testat: Kontrolle und Übersicht verloren – Deutschland im Spätherbst 2011“, sagt Sandro Valecchi.

    Exakt wie in „Margin Call“ dargestellt und nachbereitet geriet die HRE im Jahr 2008 faktisch in die Insolvent, die nur dadurch abgewendet werden konnte, nachdem sie als sogenannte systemrelevante Pfandbriefbank eingestuft und mit milliardenschweren Bürgschaften des Bundes und der Steuerzahler aufgefangen werden musste. In den USA wurde die Freddie Mac verstaatlicht und gilt in Fachkreisen als weiteres Negativ-Beispiel.

    Über die Situation, als erstes Institut in der Bundesrepublik Deutschland verstaatlicht worden zu sein, waren nach einem ersten Schock die Mitarbeiter und die Leitung keineswegs unglücklich, wie aus dem Ausspruch „wir sind jetzt im Staatsdienst“ zu entnehmen war.

    „Vollkasko Deutschland“, reagiert Analyst Sandro Valecchi verärgert, „Milliarden vernichten und zur Belohnung einem Staatsbeamten gleichgestellt werden!“

    Die Union unter Zugzwang kündigt nunmehr eine umgehende Untersuchung im Bundestagsfinanzausschuss an. Die Opposition steht bereits „Gewehr bei Fuß“, die Stimmung ist gereizt. Zwar sinken die Staatsschulden der Bundesrepublik Deutschland nach der Korrektur der Bilanzen aller Voraussicht nach um 2,6 Prozentpunkte auf wahrscheinlich 81,1 % des Bruttoinlandsprodukts. Offizielle Begründung: ein Buchungsfehler. Selbst Banken-Urgestein Hilmar Kopper bekannte, in dieser Frage vor einem Rätsel zu stehen: „Diese Zahlen waren schließlich von Wirtschaftsprüfern testiert!“

    Integrität und Kompetenz in Sachen Finanzen sieht anders aus. Mit rund 4,5 Billionen Euro – geschätzt – aber mathematisch wahrscheinlich, musste die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2008 Banken, Versicherungen und Fonds absichern (Bürgen, Garantien übernehmen).

    V.i.S.d.R.
    Sandro Valecchi, Analyst
    10555 Berlin

    • Antworten

      Joachim Goldberg

      31. Oktober 2011

      Auch ich habe gestern Günther Jauch gesehen. Eine Viertelstunde lang. Natürlich ging gleich auf die Banker los, wobei im Voraus prognostizieren kann, dass es eine Frage der Zeit ist, wann sich die stellvertretende Vorsitzende von der Partei „die Linke“, Frau Wagenknecht, mit der ihr eigenen Spekulantenschelte drauflosdrischt, womit sie fürs Publikum die ganze Angelegenheit schön vereinfacht. „Spekulant“ – das versteht jeder. Und wenn dann der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, erklärt, dass weit über 90 Prozent des Bankgeschäfts eben nicht aus (spekulativen) Eigenhandel, sondern aus Auftragshandel besteht, hat Frau Wagenknecht keine andere Antwort parat, als dass die Banken am Auftragshandel immer noch genug verdienen würden.
      Dennoch: Auch ein Publikum, das einfache Erklärungen bevorzugt, gewöhnt sich an solche Phrasen und bleibt nur an der Stange, wenn verbale Steigerungen geboten werden. Unverständlich ist mir indes, wie wenig andere Talk-Teilnehmer dafür tun, dass diesem Quatsch endlich einmal etwas Substanzielles entgegengesetzt wird.

  2. Antworten

    Sandro Valecchi

    31. Oktober 2011

    Sie haben Recht, Herr Goldberg, aber um etwas Substantielles anzubieten, müssten die verantwortlichen Sender, die Intendanten und natürlich die Produktionsfirmen (der Talk-Master) sich um qualifizierte Diskussionsteilnehmer bemühen und vor allem darauf achten, dass nicht ständig die gleichen Personen eingeladen werden.

    Da Sie selbst vom Fach sind und in einer Bank bzw. Kreditinstitut mitgearbeitet haben, dürfte Ihnen wahrscheinlich auch das Vier-Augen-Prinzip ein Begriff sein: Vier-Augen-Kontrolle (engl. Two-man rule), ist eine Sonderform des Mehr-Augen-Prinzips und besagt, dass wichtige Entscheidungen nicht von einer einzelnen Person getroffen werden oder kritische Tätigkeiten nicht von einer einzelnen Person durchgeführt werden sollen oder dürfen. Ziel ist es, das Risiko von Fehlern und Missbrauch zu reduzieren.

    Das Mehr-Augen-Prinzip ist als Prinzip in verschiedenen Bereichen z. B. zur Kontrolle oder Absicherung von Entscheidungen und Tätigkeiten einsetzbar. Es sagt aus, dass entweder eine mehrfache Kontrolle durchgeführt wird oder allgemein mehrere (unabhängige, unvoreingenommene) Personen an der Absicherung einer Entscheidung oder Tätigkeit beteiligt sind.

    Also: Augen auf und Manager wegen erwiesener Inkompetenz fristlos kündigen.

  3. Antworten

    sunny

    31. Oktober 2011

    Soo ein Waahnsinn … die Banker verrechnen sich mit uns`rer Koohle – und unser Geld, liiegt längst schoon auf dem Müll, Müll, Sondermüll …

    Tschuldigung – 55.500.000.000 Euro Bilanzschnitzer – Penauts – kann ja mal passieren, hahaha. Banker sind doch och nur Menschen – waa ? Ehrlich gesagt, verstärkt dass nicht wirklich das Vertrauen in die Banker.

    P.S. Statt Schuhe zu kaufen kann man mit dem vom Himmel gefallenen Mrd.-Betrag doch an der Börse zocken, so wie bisher – zuzutrauen wäre es den Bankern.

    Und wenn Herr Kopper sagt, dass „weit über 90 Prozent des Bankgeschäfts eben nicht aus (spekulativen) Eigenhandel, sondern aus Auftragshandel besteht“, dann heißt dass für mich, dass der große Rest eben spekulativer Handel im Auftrag für Dritte ist (Finanzkommissionsgeschäfte), denn vom schnöden Privatkundengeschäft, Sparbuch und Co. hatte sich die Deutsche zu Gunsten des Investmentbankings (einer höheren Rendite) doch damals getrennt, oder sehe ich das falsch?

    Ich denke, die Bankvertreter machen es sich viel zu leicht, sich als arme Prügelknaben der Nation darzustellen, die doch nur dass gemacht haben, was man von ihnen als „gieriger“ Kunde verlangt hat.

    Tatsache ist, dass die Gewinne bei der Bank bleiben während die Verluste auf die Schultern der Gesellschaft abgeladen werden, deren Beine unter der Milliarden Last mittlerweile Zittern wie Espenlaub und die (Wall Street) Banker vom Balkon aus Champagner trinkend auf die „Idioten“ der Occupy-Bewegung hinab schauen und danach weiter machen, als wäre nichts geschehen.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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