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1. Dezember 2010

Eine interessante Diskussion ergab sich neulich bei einem Bordeaux-Weinabend in unserem Hause. So saßen sich zwei meiner Freunde am Tisch gegenüber. Der eine, gerade frisch geschieden, war vor kurzem in die Stadt gezogen, nachdem er gut zehn Jahre lang 30 Kilometer außerhalb Frankfurts gewohnt hatte. Weit draußen, in der Wetterau, hatte er ein schönes Häuschen mit großem Garten besessen, was er nach der Trennung aber verkaufen musste, um die hohen Unterhaltszahlungen an seine Ex finanzieren zu können. Materiell hatte er sich also eindeutig verschlechtert. Der einzige Trost: Mit der kleineren neuen Stadtwohnung (ebenfalls Eigentum) entfiel das tägliche Pendeln zu seinem Arbeitsplatz mitten in der City.

Da hatte es der andere Freund doch besser getroffen. Er ist, wie man so schön sagt, immer noch glücklich verheiratet und hat zusammen mit seiner Frau zwei Jungs im Lausbubenalter. Als die Söhne jeweils ein eigenes Zimmer beanspruchten, wurde die Wohnung im Frankfurter Westend allmählich zu klein. Während die Miete gerade mal wieder erhöht worden war. Und so fiel die Entscheidung nicht schwer, sich nach einigem Suchen ein schönes Häuschen außerhalb von Frankfurt zu kaufen. Da draußen gäbe es richtig gute Luft, schwärmte der Familienvater der weinseligen Runde vor. Die Preise in Frankfurt seien sowieso völlig überzogen, so dass man das günstigere Eigenheim im Grünen dem Lärm und Krach der Großstadt vorgezogen habe. „Und einen Zweitwagen brauchen wir auch nicht“, sekundierte die Gattin: „Mein Mann nimmt die S-Bahn.“

Ich fragte mich, wer von meinen beiden Freunden langfristig wohl der glücklichere sein würde. Denn mir war klar, dass sich beide an ihr neues Heim – sei es nun größer oder kleiner als zuvor – schon bald gewöhnt haben würden. Aber das Pendeln zwischen Wohnung und Arbeitsplatz? Kein Problem für meinen frisch geschiedenen Gast. Der brauchte nämlich im Gegensatz zu früher kaum mehr als 10 Minuten bis zu seinem Arbeitsplatz. Wie aber stünde es in Zukunft mit unserem idyllischen Familienleben auf dem Lande? Würden sich die Vier damit arrangieren können, künftig jeden Morgen zwischen 30 und 45 Minuten Zeit für einen Weg aufwenden zu müssen?

Interessanterweise habe Sozialwissenschaftler vor nicht allzu langer Zeit eine Antwort auf diese Frage gefunden. Ihren Erkenntnissen zufolge gewöhnt man sich an feststehende und sichere Ereignisse wesentlich schneller als an instabile oder unsichere. Das Glücksgefühl, das man aus einem größeren Eigenheim ziehen kann, hält demnach nicht allzu lange an. Ganz anders jedoch verhält es sich mit Faktoren, die unsicher und vor allem unberechenbar bleiben1. Im Guten sorgen sie für länger anhaltendes Wohlbefinden. So freut man sich über ein unerwartetes Geschenk wesentlich länger und intensiver als über eines, mit dem man schon lange fest gerechnet hatte. Dann und wann ein Blumenstrauß an die Frau Gemahlin, ohne dass Geburtstag, Hochzeitstag etc. anstehen, kann also Wunder wirken. Das Gleiche gilt leider auch im Negativen. Wer etwa bei einer schweren Krankheit keinerlei Chance auf eine Genesung sieht, gewöhnt sich an diesem Zustand interessanterweise viel schneller als ein Patient, der immer wieder von neuem Hoffnung schöpfen darf. Auch jemand, der täglich während der Rushhour pendelt, muss sich ständig auf neue Situationen einstellen: Mal gibt es Stau auf der Autobahn, mal ist eine Oberleitung defekt oder ein Signal gestört, so dass sich die Abfahrt der S-Bahn um 20 Minuten verzögert. Nie weiß man im Voraus, ob alles reibungslos klappen wird. Und diese Unsicherheit sorgt für anhaltendes Unbehagen. Ganz zu schweigen von der Lebenszeit, die man Tag für Tag auf der Straße oder den Schienen verliert, statt sie Familie und Freunden zu widmen. Auf die Fortsetzung dieser Debatte bin ich gespannt. Den Wein für die nächste Runde habe ich schon mal bereitgestellt.


1 Hsee, Christopher K., (2008): Two Recommendations on the Pursuit of Happiness, Journal of Legal Studies vol. 37

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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