Geldpolitisches Libretto neu interpretiert
Nun haben die Akteure an den Finanzmärkten, allen voran die Devisenhändler, ihre heißersehnte Überraschung geliefert bekommen. Nach Wochen der Ruhe sprang der Euro gestern nach oben und stand zwischenzeitlich gegenüber dem US-Dollar bei 1,1385. Die Ursache für diese Aufwertung liegt auf der Hand, denn Mario Draghi stellte gestern eine graduelle Anpassung der Geldpolitik der Zentralbank in Aussicht. So erklärte der EZB-Chef am Dienstag bei der Notenbankkonferenz in Sintra (Portugal), deflationäre Kräfte, die die Teuerung belasteten, seien durch reflationäre (preissteigernde) ersetzt worden. Auch sprach Draghi mit einem Male von Faktoren, die die Inflationsentwicklung belasten können – etwa die Schwankungen der Rohöl- und Rohstoffpreise – als vorübergehende Phänomenen, über die eine Zentralbank hinwegsehen könnte. Fast könnte man meinen, der EZB-Präsident wäre zu einem Zinsfalken mutiert – eine Position, die wir normalerweise nur von Bundesbankpräsident Jens Weidmann gewohnt sind. Natürlich relativierte Draghi seine Worte, indem er einem schnellen Exit von der Politik des leichten Geldes eine Absage erteilte. Aber diese Einschränkung interessierte die Akteure an den Finanzmärkten nicht mehr, es war nicht das Libretto, sondern der Ton, der die Musik gemacht hat.
Sicherlich ist auch dem EZB-Präsident die anhaltende Konjunkturerholung in der Eurozone aufgefallen, und es ist schon verwunderlich, dass der Euro gegenüber dem US-Dollar nicht schon längst deutlicher profitierte. Denn gerade was Wirtschaftsdaten anging, überraschten die Zahlen aus Euroland zuletzt mehrheitlich eher positiv, während Fundamentaldaten aus den USA vielfach enttäuschten. Die heftige Reaktion des Euro zeigt zumindest, dass sich viele Investoren nicht nur auf ruhige Zeiten eingestellt, sondern sich auch mit der Positionierung geirrt haben müssen. Nach dem Motto: Positive Euro-Daten können nur schlechter und die aus den USA nur besser als erwartet ausfallen.
Verlustaversion der Auguren
Aber nicht nur die Devisenhändler mussten mit der zweithöchsten Handelsspanne innerhalb eines Tages in diesem Jahr zurechtkommen. Auch manche Ökonomen, die noch zu Jahresanfang den Euro in Richtung Parität abdriften sahen, haben eiligst ihre Langfristprognosen überarbeitet. Was doch eine leicht geänderte Intonation bei der Rede eines Zentralbankpräsidenten bewirken kann! Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass die Langfrist-Auguren zu spät bemerkt haben, dass sich die politische Lage für die Eurozone in der Wahrnehmung der Akteure deutlich zum Positiven geändert hat, während auf der anderen Seite nunmehr selbst der Internationale Währungsfonds nicht mehr davon ausgeht, dass die so genannten Trumponomics (Steuererleichterungen und Investitionsprogramme) die US-Wirtschaft noch in Schwung bringen können.
Vielmehr kann man davon ausgehen, dass sich einige Ökonomen – gleich einem Händler, der zu lange an einer schal gewordenen Position festhält – zu lange mental an ihr bearishes Euro-Szenario gebunden fühlten und nun angesichts eines drohenden Angriffs auf die 1,15 USD-Marke des Euro die Notbremse ziehen mussten.
War es nun Pech, dass nicht einmal 24 Stunden später EZB-Vertreter die Ansage ihres Chefs relativieren und von einer Überreaktion des Marktes sprechen (vgl. FT von heute HIER)? Ich fürchte, die Geister, die Mario Draghi reif, wird er nun nicht mehr los.
Der Mehrheit der Börsianer hierzulande – sie waren zuletzt überwiegend pessimistisch eingestellt – müsste diese Entwicklung, die sich in fallenden Aktienkursen manifestierte, eigentlich gefallen haben. Ob sie jetzt mehrheitlich die große Trendumkehr oder nur eine gesunde Korrektur im Aufwärtstrend sehen, können Sie meinem heutigen Kommentar, den ich HIER für die Börse Frankfurt erstellt habe, entnehmen oder sich HIER via Internet-Video informieren.