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27. Juli 2012

Wie fühlen Sie sich, wenn Sie in einer Schlange an der Kasse beim Supermarkt bereits seit 15 Minuten anstehen und sich plötzlich jemand vordrängelt? Vielleicht haben Sie heute einen guten Tag und lassen den Vorpreschenden gewähren. Aber an einem normalen Tag würden Sie sich vermutlich wie viele andere Menschen auch über das unfaire Verhalten aufregen. Mir geht es nicht anders. Eine leichte Verstimmung überkommt mich außerdem, wenn ich beobachten muss, dass  vor mir in der Warteschlange eine Frau  steht  und den Platz in der Reihe sichert, während ihr Mann fleißig mit der Einkaufsliste in der Hand die Regalgänge abläuft und eine Ware nach der anderen  in den Wagen wirft. Manche gehen sogar so weit, dass sie ihre Kinder an verschiedenen Kassen positionieren, um ein Ende dort bezahlen zu können, wo es am schnellsten voran gegangen ist. Hier geht es aber nur um wenige Minuten, und der auf diesem Weg errungene  Vorteil ist vor allem sportlich zu sehen.

 

Bezahltes Schlangestehen

Wie sieht es jedoch aus, wenn morgens um 8 Uhr der Vorverkauf für ein heiß begehrtes Konzert mit einer überschaubaren Anzahl an Plätzen begänne? Da gibt es so manchen Freak, der sich bereits am Vorabend vor dem Kassenhäuschen aufstellt, um bei der Eröffnung am nächsten Morgen die beste Ausgangsposition und eine reelle Chance auf eine Konzertkarte zu haben. Natürlich mag nicht jeder so viel Enthusiasmus aufbringen, bei Regenwetter stundenlang wartend zu verharren oder bei Kälte im Freien zu übernachten, um an eine Karte zu kommen. Aber wer zuerst kommt, mahlt bekanntlich zuerst und vor dem Kassenhäuschen sind alle gleich. Dachte ich zumindest. Bis ich jüngst in einem neuen Buch von Michael J. Sandel[1] las, dass es in den USA möglich ist, andere Menschen fürs Schlangestehen anzuheuern. Ja, es gibt sogar Gesellschaften wie etwa LineStanding.com, die Anstehen professionell organisieren und  ähnlich einem Arbeitsvermittlungsunternehmen etwa bei Kongressanhörungen für einen Stundensatz von 36 bis 60 USD für Lobbyisten einen Platz in der Warteschlange reservieren. Die Ansteher selbst, oftmals Menschen, die normalerweise arbeits- oder gar obdachlos wären, erhalten immerhin von diesem Salär zehn bis 20 USD pro Stunde.

 

Effiziente Allokation

Anhänger freier Märkte dürften bei solch einem Modell ins Schwärmen geraten. Denn allen scheint geholfen, wenn Angebot und Nachfrage sich frei entfalten können. Und wer wird schon etwas dagegen haben können, wenn Menschen, die ansonsten womöglich obdachlos wären, endlich einer ehrbaren Arbeit nachgehen können. Und derjenige, der bereit ist, dem Schlangesteher womöglich mehrere 100 USD zu bezahlen, würde dies nicht tun, wenn er keinen Nutzen davon hätte. Trotzdem dürfte ich nicht der Einzige sein, der sich bei dieser Idee unwohl fühlt. Nicht nur, weil die zumindest noch in einigen Lebensbereichen bestehende „Gleichheit“, auf die zumindest der Mittelstand noch eine Chance hatte, für die „effiziente Allokation“ von Konzertkarten und anderen Wirtschaftsgütern aufgegeben würde. 

Vielmehr ist das libertäre Argument, Menschen sollten kaufen und verkaufen dürfen, was immer sie möchten, nur so lange gültig, wie diese Freiheit nicht das Recht anderer Menschen verletzt. Und zu diesem Recht gehören auch gesellschaftliche Normen, auf die sich die Menschen verlassen. Etwa die Norm, sich in der Schlange nicht vorzudrängeln. Noch störender ist für mich, dass mit solchen Modellen neue Positionsgüter (mit allen damit verbundenen negativen Effekten, die ich hier beschrieben habe) in Lebensbereichen geschaffen werden, wo dies bislang nicht der Fall gewesen ist.



[1] Sandel, Michael J., What Money Can’t Buy, The Moral Limits of Markets, New York 2012

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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