Behavioral Living Märkte

Kein Taschengeld

am
30. Juli 2012

Als ich neulich erfuhr, dass Bundesanleihen mit zweijähriger Laufzeit nur noch eine negative Rendite erbringen, fragte ich mich, was meine Schwiegermutter, wenn sie denn noch am Leben wäre, wohl dazu sagen würde. In ihren letzten Lebensjahren hatte sie sich nämlich häufig bei mir darüber beklagt, dass sie angesichts der niedrigen Zinsen immer weniger Taschengeld zur Verfügung habe. Damals hatte sie immerhin noch Anleihen mit einem Kupon von 4 Prozent p. a. in ihrem Wertpapierdepot und konnte sich so zumindest die eine oder andere Ausgabe leisten, die sie sich ansonsten nicht gestattet hätte. Mit dieser Strategie, nicht nur fürs gesamte Kapital,  sondern auch für jede einzelne Zinszahlung im Geiste ein eigenes Konto (bekannt unter dem Begriff mentale Konten) zu eröffnen, stand die alte Dame für mich stellvertretend für viele andere Sparer in Deutschland. Egal, wie gering die Zinseinnahmen sind, sie werden stets als Gewinn erlebt. Und diese Gewinne zu verbrauchen, verursacht selbst bei konservativ eingestellten Menschen nicht sogleich ein schlechtes Gewissen. Leider hatte nicht nur meine Schwiegermutter dabei übersehen, dass die Inflation, für die der Zins zumindest teilweise einen Ausgleich darstellen soll, klammheimlich zu einer Entwertung des Kapitalkontos führte. Doch wenn dieses sowieso nie angerührt wird, kann man auch nicht bemerken, dass man sich für dasselbe Geld über die Jahre immer weniger hätte kaufen können.

Heute hätte sich indes für meine Schwiegermutter die Situation ganz anders dargestellt. Ihr monatliches Taschengeld wäre, nachdem die letzte relativ gut verzinsliche Bundesanleihe zur Rückzahlung fällig gewesen wäre, praktisch auf null gesunken. Denn angesichts der Eurokrise hätte sie sich wahrscheinlich sowieso nicht getraut, ihr frei gewordenes Geld in fünf- oder gar zehnjährige Schuldtitel des Bundes anzulegen. Aber kein Taschengeld für zwei Jahre? Und das bei jährlich knapp zwei Prozent Inflation? „Und bei einer Neuanschaffung müsste ich sogar an mein Kapital herangehen“, hätte sie bestimmt gejammert.

 

Anlagenotstand

„Hast du mir nicht gesagt, mein Geld sei sicher?“ Noch jetzt spüre ich ihren vorwurfsvollen Blick auf mir ruhen. Und wie viele andere Sparer wäre sie vermutlich längst zu dem Schluss kommen, schuld an allem sei allein der Euro. Heute würde ich meine Schwiegermutter gerne in den Arm nehmen und gemeinsam könnten wir dann überlegen, wo mehr Zinsen zu holen seien. Aktien? Die wären gerade in diesem Jahr viel zu volatil gewesen. Gold? Das hatte sie schon. Sogar physisch. Immobilien? Ja, aber der Ärger mit den Mietern! Dann hätte ich ihr womöglich erzählt, dass es für die Anleihe einer Bäckereikette in Frankfurt 7,5 % Prozent p. a. gäbe. Darauf wäre meine Schwiegermutter womöglich eingestiegen, weil Handwerk ja immer schon goldenen Boden hatte. Aber ich hätte dann doch lieber den Mund gehalten, denn Extra-Rendite ohne Risiko gibt es nicht und ein Unternehmen kann theoretisch auch nach 100 Jahren Pleite gehen. Auch wenn die lange Überlebenszeit eine gewisse (vermeintliche) Sicherheit suggeriert.

Vermutlich hätte ich am Ende allein schon aus Rücksicht auf den Familienfrieden lieber darauf verzichtet, ihr einen Anlagetipp zu geben, und stattdessen verkündet: „Wenn Du keine Zinsen bekommst, musst du auch keine Zinsabschlagsteuer zahlen!“ Meine Erklärung, dass damit ein mentales Verlustkonto wegfallen würde, hätte ihr wahrscheinlich wenig eingeleuchtet. Aber dem Staat ein Schnippchen schlagen? Ich bin sicher, sie hätte mich vielsagend angegrinst. Und für einen Augenblick hätten wir uns prima und ohne viele Worte verstanden.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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