Behavioral Living

Eine Herde zwischen den Jahren

am
3. Januar 2011

Nein, über die Bahn zu lästern ist eigentlich „out“. Die hat nämlich ohnehin schon genug Probleme. Und deswegen will ich mich auch gar nicht darüber auslassen, dass ich für eine Bahnstrecke, die man normalerweise in etwas mehr als 90 Minuten schaffen kann, zwischen Weihnachten und Neujahr gut drei Stunden aufwenden musste. Wieder einmal waren ein paar ICE-Züge auf der Nord-Süd-Achse Deutschlands aus irgendwelchen Gründen 60 bis 80 Minuten lang hängen geblieben. Meine Frau, drei Kinder und ich (wir hatten angesichts der kurzen Strecke nach Stuttgart für die zweite Klasse gebucht) wichen daher von der direkten Verbindung auf einen Zug nach Mannheim aus. Natürlich in der Hoffnung – wie uns an jenem Tage der einzige hilfsbereite Schaffner weit und breit am Frankfurter Hauptbahnhof geraten hatte – von dort aus besser weiterzukommen.

Mit dem ICE in Mannheim gerade angekommen, konnte der soeben frisch eingesetzte Ersatzzug natürlich nicht mehr auf uns warten. Stattdessen warteten wir wie viele andere Passagiere. Noch einmal eine gute Stunde. Und dann standen wir zusammen mit vielen Fahrgästen auf dem Bahnsteig und konnten gemeinsam beobachten, wie der ICE nach München endlich heranbrauste. Das, was sich dann abspielte, hatte schon etwas von Herdenverhalten – so wie es auch an den Finanzmärkten häufig zu beobachten ist. Hunderte von Passagieren versuchten, sich in die Waggons der zweiten Klasse hineinzudrängen. Man kann sich vorstellen, wie eng es dort zugegangen sein muss. Dabei hätte sich ein wenig Nachdenken durchaus gelohnt. Natürlich kann ich, der normalerweise in der ersten Klasse zu reisen pflegt, nicht unbedingt als leuchtendes Beispiel für besonders kühles Denken herhalten, da ich ja die hohen Preise ohnehin schon gewöhnt bin. Gleichwohl habe ich mir meine Familie geschnappt und mich mit ihr in einen fast leeren Wagen der ersten Klasse gesetzt, wo ich nur einen gleichgesinnten Familienvater samt Anhang antraf. Wir waren uns einig: Wenn der Schaffner käme und von uns einen Zuschlag für die erste Klasse fordern würde, könnten wir diesen sicherlich mit der Entschädigung der Bahn, die es für eine derart saftige Verspätung wie in diesem Fall gibt, verrechnen.

Tatsächlich hat es mich ein bisschen verwundert, dass nicht mehr Reisende auf die gleiche Idee wie wir gekommen waren. Mag sein, dass die meisten einfach nicht bereit waren, auch noch den Zuschlag für die erste Klasse zu bezahlen. Möglich wäre außerdem, dass viele nicht von der Norm und dem vermeintlichen Schutz, den eine Herde bietet, abweichen wollten.

So verbrachten wir eine äußerst komfortable Reisezeit im Erste-Klasse-Abteil bis Stuttgart Hauptbahnhof. Und übrigens: Währenddessen hat sich bei uns kein einziger Fahrkarten-Kontrolleur blicken lassen. Die hetzten alle an uns vorbei in die hinteren Waggons. Dort, wo sich die Leute dichtgedrängt auf den Füßen standen.

SCHLAGWÖRTER
ÄHNLICHE BEITRÄGE

HINTERLASSEN SIE EINEN KOMMENTAR

Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

Archiv