Behavioral Living Wirtschaft

Ein harmloses Spiel

am
7. Oktober 2011

Unlängst, ich weiß nicht, warum, erinnerte ich mich plötzlich wieder an meine erste intensive Erfahrung mit Geld. Ich muss damals ungefähr neun Jahre alt gewesen sein, als eines Tages ein bislang eher schüchtern und unscheinbar wirkender Schulkamerad alle Kinder in meiner Klasse aufforderte, unser Spielgeld von zu Hause mitzubringen und bei ihm abzuliefern. Anfangs waren wir überrascht, dann wurden wir neugierig. Und tatsächlich begannen wir, die Registrierkassen in unseren Kaufmannsläden zu plündern oder ganze Monopoly-Bestände mit in die Schule zu bringen. Der Mitschüler musste nur noch die gesamte Barschaft einsammeln. Ein harmloses Spiel begann.

Jeden Tag bekam ein Großteil der Klassenkameraden einen Teil des Spielgeldes wieder ausbezahlt. Kinder, die dem kleinen Bankier nahestanden, erhielten etwas mehr, die weniger Wohlgelittenen etwas weniger. Jeden Tag gab es neues Geld, und jeder bekam, abhängig von Rang und Status, was ihm zustand. Wobei man durch Wohlverhalten und andere Gefallen seinen Tageslohn erheblich steigern konnte. Es dauerte nicht lange, und es traten zwei wesentliche Erkenntnisse zu Tage. Die eigene Position innerhalb der Klasse war extrem wichtig. Zum anderen entschieden nicht länger körperliche Kraft und schulische Leistung über den Rang innerhalb der Gemeinschaft, sondern die auf den Spielgeldscheinen aufgedruckten Ziffern. Keiner meiner Mitschüler unternahm irgendeine Anstrengung, diese teils willkürliche Ordnung etwa durch heimliches Beimengen zusätzlichen Spielgeldes zu verbessern. Etwas anderes war viel dringlicher. Jeder meiner Klassenkameraden verlangte von Tag zu Tag mehr Geld, so dass die Geldreserven alsbald aufgebraucht waren. In seiner Not hatte der Finanzstratege einen scheinbar großartigen Einfall: Er begann einfach weiteres Spielgeld zu drucken. Bald reichten nicht mehr die 100er Noten, auch nicht die Tausender. Ganz schnell landeten wir bei Millionen- und Milliardenscheinen. Schließlich wurden selbst die einfältigsten Mitschüler misstrauisch. Und es dauerte nicht lange, bis von Betrug die Rede war. Schnell breitete sich Wut aus – der kleine Große Gatsby war entzaubert. Und wenn die Lehrerin nicht dazwischen gegangen wäre, hätte es vermutlich Klassenkeile gegeben.

Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger wundert es mich, dass mir diese längst vergessene Geschichte gerade jetzt wieder eingefallen ist.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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