Dissonanzen eines Schiedsrichters
Jetzt sind sie also von der Fifa nach Hause geschickt worden, diejenigen WM-Schiedsrichter, die bislang nicht so recht zu überzeugen wussten. Unter ihnen auch der Italiener Roberto Rosetti, der beim Spiel Mexico – Argentinien in Gerede gekommen war, weil er den Gauchos einen Treffer zuerkannte. Ein Tor, das, wie sich bereits Sekunden später per Replay an der Stadionleinwand herausstellte, aufgrund einer klaren Abseitsstellung zu Unrecht gegeben wurde. Rosetti wurde also umgehend mit einer Information konfrontiert, die die Richtigkeit seiner soeben getroffenen Entscheidung in Frage stellte. Anders ausgedrückt: Die Bilder im Stadion müssen einen hohen Grad an kognitiver Dissonanz beim Referee ausgelöst haben. Ähnlich wie bei einem Börsianer, der gerade Aktien gekauft hat, deren Kurs direkt hinterher in die Tiefe stürzt, ist ein solcher Zustand ausgesprochen unangenehm. Ein Zustand, aus dem es jedoch immerhin zwei Auswege gibt.
Der eine lautet: Handeln. Rosetti hätte das Tor für Argentinien annullieren und somit seine Entscheidung revidieren können. Was zugegebenermaßen laut Fifa-Reglement verboten gewesen wäre und vermutlich sogar eine Strafe nach sich gezogen hätte. Aber auch ohne diese Drohung hätte sich der Schiedsrichter – wie die meisten anderen Menschen auch – mit einem solchen Rückzieher schwer getan. Weil er das Eingeständnis eines Fehlers gewesen wäre. Und das auch noch vor aller Öffentlichkeit, rund um den TV-Globus! Eine Öffentlichkeit, die aber höchstwahrscheinlich gerade wegen dieses Eingeständnisses Rosetti zum Helden hätte küren können. Er, der sogar den Mut hatte, einmal von den ohnehin umstrittenen Normen der Fifa abzuweichen.
Stattdessen hat er das getan, was die meisten von uns in einer solchen Situation machen würden, um die unangenehmen Dissonanzen zu beseitigen: Das, was zur ursprünglichen Entscheidung passt (etwa die Regeln des Weltverbandes), besonders stark wahrzunehmen. Und das, was die Entscheidung in Frage stellen würde, einfach zu ignorieren. Vielleicht war es deswegen auch so einfach, Rosetti nach Hause zu schicken.