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Aufs falsche Gleis gestupst

am
19. Mai 2015

Unlängst sollte mein Freund H. einen Vortrag in Nottingham halten. Und da die Veranstaltung 90 Minuten früher als geplant endete, dachte er sich, es wäre doch schön, diese Zeit zu nutzen und ein paar Züge früher als ursprünglich beabsichtigt die Fahrt zum nächsten Zielort anzutreten. Das Ganze stellte sich allerdings nicht als besonders einfach heraus, denn der gute Freund hatte sich zuvor auf eine bestimmte, besonders günstige Verbindung festgelegt, bei der die ganze Fahrt nur 68 englische Pfund kosten sollte. Auf Nachfragen am Bahnhof stellte sich jedoch heraus, dass er die Differenz zwischen dem Billigticket und dem vollen Fahrpreis von 135 Pfund für eineinhalb Stunden Zeitersparnis hätte nachentrichten müssen. Die Dame am Ticketschalter konnte den leichten Groll ihres Gegenübers jedoch nachvollziehen und schlug daher vor, er solle doch lieber die eingesparte Zeit für einen Stadtbummel nutzen und das Geld zum Shoppen statt für ein Zugticket ausgeben.

Ein klarer Fall von mentaler Kontoführung, dachte ich mir. Eigentlich müsste es mehr von solchen Menschen geben, dann wäre die Konjunktur schnell angekurbelt. Denn die Dame am Ticketschalter hatte schlicht und einfach mit dem Geld meines Freundes gespielt, das dieser noch gar nicht ausgegeben hatte. Aber durch die Verschiebung des Referenzpunktes von 68 auf 135 Pfund wäre ihn die Zugfahrt 67 Pfund teurer zu stehen gekommen als ursprünglich beabsichtigt. Statt diesen Verlust zu realisieren, dürfte es für H. erträglicher gewesen sein, dieses Geld auf ein anderes mentales Konto als ersparten Verlust bzw. Gewinn zu buchen und dieses Geld sozusagen als Windfall-Profit ohne Reue auszugeben. Geld, das mein Freund ohne diesen Vorfall vermutlich nicht einmal in Gedanken angerührt hätte.

 

Und ein Nudge obendrein

Die Geschichte zeigt allerdings auch noch etwas anderes. Nämlich wie die nette Dame am Bahnschalter – vermutlich unbewusst – meinen Freund H. zu einer glücklicheren Entscheidung anstupsen wollte. Über dieses so genannte Nudging ist gerade in der jüngeren Vergangenheit viel diskutiert worden. Vor allem, wenn der Staat seine Bürger zu angeblich besseren Entscheidungen anstupsen möchte. Von Bevormundung und Manipulation der Menschen war da erst kürzlich die Rede – ich habe unlängst HIER dazu Stellung genommen. Dabei zeigt die Realität, dass wir durch Referenzpunkte in unserem sozialen Umfeld permanent zu Entscheidungen bewegt werden, die nicht immer zu unserem Besten sein mögen. Dennoch: Es gibt keine Nudge-freien Zonen in unserem Leben, auch wenn wir immer wieder gegenüber uns selbst und anderen beteuern, dass wir unsere Entscheidungen eigenständig und völlig unabhängig von irgendwelchen Einflüssen treffen.

Aber vermutlich möchten die Menschen zumindest bestimmen dürfen, von wem sie angestupst werden: Nämlich bestimmt lieber von einer charmanten Fahrscheinverkäuferin, die uns ganz uneigennützig mit guten Ratschlägen helfen möchte, als von Verhaltensökonomen, die extra von der Regierung eingestellt wurden, nur um uns Bürger glücklicher zu machen.

Doch H. kennt sich aus mit den mentalen Fallen, die aufzuzeigen das Ziel der Behavioral Economics ist. Zumal er generell zur Vorsicht neigt und es unter normalen Umständen nicht riskiert hätte, wegen eines zu ausgedehnten Stadtbummels am Ende womöglich auch noch den ursprünglich gewählten Zug zu verpassen. Aber wofür hat sich mein Freund H. am Ende entschieden? Gelangweilt am Bahnhof in Nottingham sitzen und 90 Minuten auf den Zug warten?

Nein, er ist am Ende doch noch shoppen gegangen. Und er wähnte sich glücklich, weil er sich auf sein Bauchgefühl verlassen hatte. Ein teurer Spaß übrigens, denn seine Einkäufe kosteten eindeutig mehr als der Aufpreis auf das Zugticket.

 

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4 Kommentare
  1. Antworten

    Claudius

    19. Mai 2015

    Sehr schöner Beitrag. Ich denke niemand kann von sich behaupten, dass er 100% immun gegen Nudging ist. Interessant wäre es doch deshalb einmal die Frage zu stellen, wie man sich davor schützen!?
    Wenn es um das Thema Geld geht, so plane Ich meist sehr genau wie viel Geld Ich mit aus dem Haus nehme (um es später auszugeben). Ich versuche auch immer in bar zu bezahlen um mir die Beträge vor Augen zu führen.
    Was kann man in anderen Bereichen dagegen tun?
    Gruß,

    Claudius

  2. Antworten

    Ex-Studentin

    22. Mai 2015

    Bei solchen Entscheidungen kommt es auf die Nachhaltigkeit an: Wovon habe ich mehr? 67€ und gesparte Lebenszeit oder Klamotten/Gegenstände, von denen man vielleicht noch einige Jahre etwas hat. Ob man bei einem Stadtbummel Geld ausgeben muss, sei dahin gestellt. Ich erwisch mich aber selbst dabei, dass ich lieber Zeit opfere statt „unnötig“ Geld an Fremde zu geben. Denn: So ein Stadtbummel/Wartezeit kann sehr erholend sein. Selbst, wenn man nichts kauft.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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