Gesellschaft Politik Wirtschaft

Europa und das eskalierende Commitment

am
8. November 2011

Am vergangenen Wochenende war ich bei einem Freund eingeladen, und natürlich musste das Gespräch auf die europäische Schuldenkrise kommen. Dabei ging es ausnahmsweise einmal nicht um die Frage, wie man sein eigenes Geld in Sicherheit bringen könne. Und auch nicht darum, wohin die Krise Deutschland noch führen werde. Vielmehr fragte mein Gegenüber, ob man diese Rettungsorgie nicht besser stoppen solle, da sich ja immer deutlicher zeige, dass das Hilfspaket für die strauchelnden Länder der Eurozone von Tag zu Tag größer und umfangreicher würde. Am Anfang habe es sich noch um halbwegs überschaubare Hilfsmittel für die in Not geratenen Partner gehandelt, mittlerweile sei man aber bei Billionen schweren Beträgen gelandet, und immer noch nicht sei ein Ende abzusehen. Von einer seriösen Finanzierung könne ja außerdem nicht die Rede sein, da man auf Instrumente wie den EFSF-Hebel oder Zweckgesellschaften für die Schaffung strukturierter Produkte zurückgreifen müsse – also jene riskanten Strategien befolge, die einst die Immobilienkrise in den USA ausgelöst hatten. Im Prinzip, so meinte mein Freund, verhalte sich Europa nicht anders als ein Händler, der seine Verluste auf jede erdenkliche Art wieder wettmachen will. Wie er versuche man nun, durch so genanntes „Hinzumischen“ neuer Engagements zu bestehenden Positionen, die bereits in den Verlustbereich abgerutscht seien, den Einstandspreis scheinbar zu verbilligen. Aber die Eurozone dürfe sich doch nicht wie ein Kerviel oder Adoboli gerieren, empörte sich mein Gesprächspartner. Schließlich hatten diese Hasardeure durch ihr skrupelloses und unverantwortliches Vorgehen während der Finanzkrise Milliardenverluste verursacht.

Leider konnte ich die Sorgen meines Freundes nicht zerstreuen. Denn auch aus psychologischer Sicht stellt sich die Lage als bedenklich dar. So sind die europäischen Regierungen meines Erachtens ein hohes Commitment eingegangen. Und diese Bindung an eine einmal gefällte Entscheidung hat sich mittlerweile auch noch unglaublich verstärkt, nicht nur wegen der Angst vor möglichen Verlusten, die naturgemäß das Commitment der Handelnden erhöht. Vielmehr haben Politiker generell eine sehr große Selbstverpflichtung gegenüber dem, was sie tun oder versprechen zu tun, weil sie immer im grellen Licht der öffentlichen Beobachtung agieren müssen. Und diese Bindung macht es ihnen praktisch unmöglich, selbst bei hohen Verlusten eine einmal eingeschlagene Strategie zu revidieren. Kommt noch eine Normabweichung hinzu – in diesem Fall die Missachtung der zuvor getroffenen Vereinbarung, im Zweifel Nachbarländern finanziell nicht aus der Patsche zu helfen – gibt es gar kein Zurück mehr.

Und so bleiben auf den ersten Blick nur zwei Lösungsmöglichkeiten: Entweder gelingt die Rettung der Eurozone unter Einsatz vermutlich selbst noch aus heutiger Sicht ungeheurer Mittel. Oder die Politiker kapitulieren eines Tages, was einer Aufgabe des Projektes Europa gleichkäme. Denn die hohen Commitments aller Beteiligten verringern die Wahrscheinlichkeit eines Stopp-Loss, was in diesem Falle nichts anderes hieße, als die Rettungsaktion für die notleidenden Staaten sofort abzubrechen, auf ein Minimum. Diese starke Bindung an eine einmal gefällte Entscheidung kann letztlich nur durch neue Entscheider gelöst werden – wie im Fußball, wo ein neuer Trainer manchmal Wunder bewirken kann. In Europa weisen Regierungswechsel bereits in diese Richtung. Allerdings konnten jene bis jetzt kaum Veränderungen bewirken, da es in vielen europäischen Partnerländern, allen voran Frankreich und Deutschland, noch nicht zu einem Machtwechsel gekommen ist. Und so werden die Commitments – und damit die Risiken einer Ausweitung der Krise – mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter eskalieren.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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