Märkte Wirtschaft

Zweifelhafter Geschichtsunterricht

am
29. August 2011

In den vergangenen Wochen bin ich immer wieder gefragt worden, ob denn die Situation an den Börsen, insbesondere die Entwicklung des DAX, mit den Ereignissen des Jahres 2008 verglichen werden könnte. Wahrscheinlich weil der jüngste Kursverfall für viele Akteure nicht mehr erklärbar ist. Denn außer den Theorien, Wurstfinger, Computerprogramme oder gar ein Jérôme-Kerviel-Double hätten wieder einmal für fallende Aktienkurse gesorgt, ist nicht allzu viel zu vernehmen. Und so – das mag ein Symptom für Kontrolldefizite bei den Händlern sein – verfällt man immer wieder in historische Vergleiche.

So forderte mich neulich ein Journalist auf, ich solle doch einmal alle wichtigen Börsen- und Finanzkrisen aufzählen und dann einen Vergleich mit der jetzigen Situation ziehen. Also ging ich in Gedanken rückwärts. Ich fing mit der Internetblase der Jahrtausendwende an, die sich fast wie Kleinkram anfühlt im Vergleich zur momentanen Krise. Die Krise und das Scheitern des Hedgefonds von LTCM im Jahre 1998? Fast schon banal. Der Börsencrash im Jahre 1987? Peanuts! Ich kam schließlich im Jahr 1929 an, und das könnte tatsächlich als Ankerpunkt für die Krise von 2008 gelten. Dann wären wir jetzt, 2011, im Jahre 1932 und am tiefsten Kurs der damaligen Aktienkursentwicklung angelangt. Das war zu Zeiten der Großen Depression. Dann fiel mir noch die eine oder andere Panik ein. Fast hätte ich darüber das Jahr 1873, welches das Ende des Gründerbooms einläutete, vergessen. Auch damals waren die Finanzmärkte weltweit eingebrochen. Und dann erinnerte ich mich an einen Zeitungsartikel des Historikers Scott Reynolds Nelson, für den schon die deutsche Reichsgründung 1871 der Beginn einer Spekulationsblase war. Und zwar wegen der französischen Reparationszahlungen. Damals war die Vergabe von Hypothekenkrediten von staatlicher Seite gefördert worden, so dass ein Bauboom losgetreten wurde, der von dramatisch ansteigenden Grundstückspreisen begleitet war. Seinerzeit spielten die USA die Rolle, die heute China innehat. Und was damals technologische Errungenschaften wie das Fließband und große Dampfschiffe waren, durch die die Amerikaner in die Lage versetzt wurden, Fleisch und Getreide zu Niedrigpreisen auf dem Weltmarkt anzubieten, das sind heute die chinesischen Billigexporte von Kleidern und Spielzeug.

Auf den Boom folgte der Zusammenbruch und in den USA eine Bankenkrise. Eisenbahngesellschaften, die für ihre Finanzierung komplexe Instrumente kreiert hatten, traf es zuerst. Auch vor rund 140 Jahren verstand kaum jemand, wie diese Kredite tatsächlich besichert worden waren. Am Ende konnten auch staatliche Regulierungen nicht verhindern, dass die Weltwirtschaft in einen Zustand geriet, der von den Historikern einmal mit dem Namen „Long Depression“ bezeichnet werden sollte.

Trotz dieser verblüffenden Parallelen sind solche Vergleiche fragwürdig. Ich erinnerte mich, wie ich damals (noch als Charttechniker) die Kurven von 1929 und 1987 unmittelbar vor dem jeweiligen Crash übereinanderlegte, weil ich hoffte, die Zukunft aus der Vergangenheit ableiten zu können. Später wusste ich: Alles kam ganz anders. Heute weiß ich, dass ich ganz einfach dem Repräsentativitätsirrtum unterlegen war: Oft erkennen wir nur schemenhaft eine Ähnlichkeit mit historischen Ereignissen und glauben sofort, alles müsse genau wie damals ablaufen. Das mag in der Gegenwart für eine scheinbare Prognosesicherheit sorgen und Schwarzmaler in ihren Schreckensszenarien bestätigen. Dennoch: Eine Antwort auf die heutigen Probleme bietet die Geschichte der Finanzmärkte nicht.

 

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5 Kommentare
  1. Antworten

    mork

    29. August 2011

    Ich halte solche Ableitungen aus der Vergangenheit auch für nonsense. Es ist wie eine Tageswanderung in den Bergen – wenn ich morgens losgehe muss ich im laufe des Tages jeden Berg den ich hoch gestiegen bin auch wieder absteigen. Ich kann aber nicht durch besteigen des ersten Berges errechnen wie hoch der nächste Berg sein wird…

  2. Antworten

    sunny

    29. August 2011

    Aus der Geschichte lernen heißt siegen lernen, bzw. den gleichen Fehler nicht ein zweites Mal zu machen.
    Da die Menschen aber nicht lernfähig sind,…
    Auch vor 150 Jahren gab es bereits Leerverkäufe, Spekulationen, Blasen und natürlich, dass reinigende Gewitter eines Crashs.
    Auf und nieder – immer wieder 😉
    ist der Lebenslauf in dieser Welt.
    Mal geht es vorwärts mal geht es zurück
    mal hast du Pech und dann wieder Glück.
    Mal geht’s im Schritt und dann wieder im Trab
    so ist das Leben
    ein Auf und ein Ab

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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