Zurück zum Schuldprinzip?
Unter Juristen gibt es bekanntlich den Spruch „Vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand“. Was mich unweigerlich auf die Idee brachte wieder einmal über Anker nachzudenken. Natürlich nicht über Schiffsanker, sondern über die Wirkung der Verankerungsheuristik im Gerichtssaal. Zunächst fielen mir die verschiedenen alte Gerichtsfilme ein, wo vielfach ein des Mordes Verdächtiger überführt werden soll. Da kann man häufig den Staatsanwalt, aber auch die Verteidiger beobachten, wie sie dem Prozessverlauf eine andere Richtung verleihen möchten, indem sie irgendwelche für die Verhandlung unwichtig oder gar irrelevant erscheinende Nebensächlichkeiten ins Spiel bringen. Erklärungen, die die Gegenseite häufig mit einem „Einspruch, Euer Ehren!“ abzuwürgen versucht. Selbst wenn der Richter mit „stattgegeben“ oder gar zu den Geschworenen gewandt: „Streichen Sie das aus dem Protokoll!“ reagiert, kann man fast sicher sein, dass beim einen oder anderen solche Anker zumindest im Kopf hängen bleiben und damit meinungsbildend wirken. Weil ihr Einfluss nicht ausreichend korrigiert wird.
In dieser Meinung bin ich übrigens erst neulich und zum wiederholten Male bestätigt worden, als mir ein Freund, der sich gerade in Scheidung befindet, die Klageschrift des gegnerischen Anwalts seiner Frau zeigte. Da war doch seitenlang minutiös ausgeführt und fast schon spannend zu lesen, wie mein Freund angeblich und gleich auch noch mehrfach seine Frau aufs Übelste betrogen haben soll. Und das, obwohl aus der Ehe bisher drei Kinder im Alter von 10, 12 und 14 Jahren hervorgegangen waren. Bis es mir plötzlich deuchte: Es gibt doch bei einer Scheidung gar kein Schuldprinzip mehr. Ob das der Scheidungsrichter auch noch weiß, wenn er so eine Klageschrift liest?