Ungebrochener Mythos
Obgleich ich über dieses Thema schon einmal geschrieben habe, muss ich jetzt noch einmal darauf zurückkommen. Es geht um den Mythos 200-Tage-Linie, der sich nicht nur wegen der Erwähnung in den Finanzmedien immer noch hartnäckig am Leben hält und sich sogar großer Beliebtheit erfreut. Erschreckenderweise auch unter Anlageprofis und Finanzberatern.
Ich selbst habe mich vor sehr langer Zeit intensiv mit der technischen Analyse beschäftigt. Dabei verfolgte ich das Ziel, aus Formationen und Kursverläufen der Vergangenheit Rückschlüsse auf die Positionierungen der Marktteilnehmer und deren Einstandspreise ziehen zu können. Einstandspreise, die nichts anderes als Referenzpunkte aus der Behavioral Finance darstellen und deren Wahrnehmung darüber entscheidet, ob man ein Engagement als Gewinn oder Verlust wahrnimmt. Mit den entsprechenden Folgen. Dabei interessieren naturgemäß die Engagements der Gewinner weniger als die der Verlierer. Denn diese sind es, die oftmals über lange Zeit in den Finanzmärkten wie gefesselt verharren und erst dann im Stande sind, ihr Engagement klarzustellen, wenn sie entweder kapitulieren oder ihren wahrgenommenen Einstandspreis wieder erreichen. Die Betonung liegt auf wahrgenommen. Denn es handelt sich bei diesen Referenzpunkten oft nicht um die ursprünglichen Einstandspreise, die auf einer Chart als Umsatz in der Vergangenheit erkennbar wären. Vielmehr verändern sich diese Referenzpunkte durch Gewöhnungseffekte oft innerhalb kurzer Zeit und werden daher auf einer Chart gar nicht abgebildet.
Es sind aber gerade die Bilder der Chartanalyse, die der selektiven Wahrnehmung besonderen Vorschub leisten. Nicht umsonst behaupten viele Charttechniker, ihre Methode sei mehr Kunst denn Wissenschaft.
Zu einer „guten“ Chartanalyse gehört seit jeher auch die Anwendung von technischen Indikatoren, zu denen auch die so genannten gleitenden Durchschnitte zählen, so etwas wie eben die stark beachtete 200-Tage-Linie. Es handelt sich dabei um die Aneinanderreihung täglich ermittelter Durchschnittskurse, beispielsweise des DAX‘ (Schlusskurse) über die vergangenen 200 Tage. Bereits vor vielen Dekaden hat sich dabei folgende Börsenregel herausgebildet. In ihrer einfachsten Form besagt sie, dass ein Überschreiten dieser Linie durch den Aktienindex (das gilt auch für andere Märkte) von unten nach oben einen Kauf signalisiert, während ein Überqueren von oben nach unten ein Verkaufssignal bedeutet.
Auf einer Chart mag diese Regel gerade nach längeren Trends im Nachhinein profitabel aussehen. Vor allem wenn man für deren Betrachtung nur den Zeitraum von ein oder zwei Jahren wählt. Abgesehen davon, dass sich bei genauerem Nachrechnen oftmals herausstellt, dass diese Regel doch nicht so toll ist, wie sie auf einer Grafik aussehen mag, ist sie bei der Anwendung auf lange Zeitabschnitte, etwa mehrere Jahrzehnte, in den meisten Fällen nichts wert, weil sie einerseits zu träge ist und in ausgeprägten Seitwärtsphasen häufig kostspielige Fehlsignale auslöst.
Seltsame Kräfte wirken an der 200-Tage-Linie
Es gibt aber auch Analysten und Kommentatoren, die der 200-Tage-Linie seltsame Kraft bescheinigen. Danach sollen die Kurse häufig an diesem Durchschnitt der vergangenen 200 Tage abprallen und nicht selten das Ende wichtiger Korrekturbewegungen markieren. Abprallen können die Kurse allerdings nur, wenn an dieser Linie tatsächlich Angebot oder Nachfrage besteht. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass sich ausgerechnet an diesem Durchschnittswert der vergangenen 200 Tage alte Positionen schiefliegender Akteure befinden.
So bleibt nur die Annahme, dass Angebot oder Nachfrage kurz vor dieser Linie entstehen, weil so viele Akteure in diesem Bereich aktiv sind, der Boden also vorhanden ist für eine self-fulfilfing prophecy, eine Prophezeiung die sich erfüllt, weil viele danach handeln. Das mag eine gewisse Zeit lang tatsächlich auch gut gehen. Aber je mehr Chartjünger an einem bestimmten, weithin bekannten Preisniveau als Folge bestimmter Kauf- oder Verkaufssignale handeln, desto schneller und kräftiger reagieren die Kurse an dieser Stelle, so dass der kleine vermeintliche Vorteil gegenüber der Masse der Marktteilnehmer schnell dahinschmilzt. Außerdem freuen sich große und schwere Marktteilnehmer, wenn möglichst viele Marktteilnehmer einer Meinung sind. Gerade wenn viele glauben, man müsse zu einem bestimmten Punkt kaufen bzw. verkaufen, können die Schwergewichte in den Finanzmärkten ihre Position oft unbemerkt abstoßen oder umgekehrt diese aufbauen, indem sie gegen die vermeintlich klaren Kauf- oder Verkaufssignale handeln. Und so wird aus einer self-fulfilling prophecy allzu oft eine sich selbst erfüllende Zerstörung, eine self-fulfilling destruction.