Reine Spekulation
Wer am vergangenen Dienstag die Financial Times aufmerksam gelesen hat, dürfte kaum übersehen haben, dass die Investmentbank HSBC in die Schlagzeilen geraten ist. Denn Bernard Madoffs Konkursverwalter Picard Irving teilte mit, er habe das Institut (neben anderen europäischen Banken) zu einem Schadensersatz von 9 Milliarden US-Dollar verklagt. Seine Begründung: HSBC sei für Fonds aktiv gewesen, die in Madoffs Pyramidensystem investiert hätten, obwohl eigene Führungspersönlichkeiten wie auch externe Prüfer genau davor gewarnt hätten, und das nicht nur einmal. Anscheinend weist die 165 Seiten umfassende Anklageschrift gleich auf mehrere solcher Ungereimtheiten hin. So wird der Bank darin vorgeworfen, sie habe offensichtliche Widersprüche in Madoffs Kontoauszügen schlichtweg übersehen. Angeblich war niemandem aufgefallen, dass Handelsdaten auf einen Samstag fielen oder abgerechnete Kurse außerhalb der täglichen Handelsspanne lagen. Ganz zu schweigen von den auffallend hohen Handelsvolumina.
Mancher Leser dieses FT-Aufmachers wird sich – auch wenn die HSBC nach wie vor behauptet, dass diese Vorwürfe haltlos seien – trotzdem die Frage stellen, wie so etwas möglich sein konnte. Dabei möchte ich nicht einmal auf ein in der Anklageschrift zitiertes internes HSBC-Dokument eingehen, in dem Entscheider der Bank mit dem Nimbus argumentieren, der Bernard Madoff umgeben haben soll. Zu kurz gegriffen scheint mir auch der Hinweis, den Kommentatoren und Leitartikler immer wieder gerne anführen, dass Gier oder die vermeintliche Erfolgsserie in Verbindung mit attraktiven Renditen des „Magiers“ die Bankmitarbeiter blind gemacht hätten.
Betrachtet man diesen Fall aus einem psychologischen Blickwinkel, kann man sich durchaus vorstellen, warum Mitarbeiter und Entscheider einer Investmentbank Warnungen, seien es interne oder externe, in den Wind schlagen. Dazu tragen in großem Maße natürlich die Anreizsysteme in Form der Boni bei. Auf die verdächtigen Signale, die etwa von einem Premium-Kunden ausgehen, zu hören, würde für die verantwortlichen Manager im Zweifelsfalle bedeuten, künftig auf hohe Erträge dieses Accounts verzichten zu müssen. Und damit womöglich auf einen Teil des eigenen Bonus’, an den man sich über die Jahre nicht nur gewöhnt, sondern den man bereits fest ins eigene Budget miteingerechnet hatte.
Wie in vielen potentiellen Verlustsituationen, die von Menschen als dissonant empfunden werden, gilt auch hier, dass die Bereitschaft, eine Entscheidung zu treffen oder zu revidieren, relativ gering ausfallen dürfte. Stattdessen erleben wir – wie fast immer in vergleichbaren Situationen – Entscheider, die ihnen vorliegende Informationen und Nachrichten umdeuten, um Dissonanz zu verringern. Das, was zum Erhalt des Status quo passt, wird stark vergrößert, was ihn hingegen gefährden könnte, wird heruntergespielt, verharmlost oder völlig ignoriert. Mit der Folge, dass wichtige Informationen auch intern stark gefiltert weitergegeben werden.
Jetzt könnte man natürlich einwenden, dass diejenigen Angestellten, denen Unregelmäßigkeiten bei Kundenkonten auffallen, möglicherweise wegen ihrer niedrigen Position innerhalb der Hierarchie gar keinen Bonus bekommen, mithin also kein diesbezügliches Commitment haben und sich daher bei ihren Vorgesetzten schnell zu Wort melden dürften. Die Frage ist nur, ob dieser ihnen überhaupt Gehör schenken und, wenn ja, wie ernst er ihre Warnhinweise nehmen wird. Im Zweifelsfall „kümmert“ sich der Chef höchstpersönlich um die Angelegenheit – oder aber um den unbequemen, lästigen Bedenkenträger. Wie er das macht, soll Ihrer Fantasie überlassen bleiben. Alles andere wäre an dieser Stelle reine Spekulation.