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Geliebter Euro

am
12. Juli 2017

Als der Euro noch zu Jahresbeginn gegenüber dem US-Dollar mit einem Wechselkurs von etwas mehr als 1,03 gehandelt wurde, gab es eine große Mehrheit von Analysten, die keinen Pfifferling mehr auf die Gemeinschaftswährung geben wollten. Dass schon bald die Parität erreicht werden sollte, schien keiner Prognose mehr wert zu sein, sondern galt als eine Entwicklung, der man vielfach eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent in diesem Jahr einräumte. Tatsächlich waren die Kursziele mancher Analysten viel tiefer angesetzt.

Nun ist alles ganz anders gekommen. Was sich anfangs noch als eine „gesunde“ Aufwärtskorrektur im groß angelegten Abwärtstrend des Euro anfühlte, sieht nun, zumindest was die Langfristprognosen angeht, wie ein Major Reversal, eine langfristige Trendwende aus. Statt von der Parität für den Euro/Dollar-Kurs spricht man nun von 1,20 USD pro Euro. Dafür mussten mancherorts gleich ganze makro-ökonomische Analysen umgeschrieben werden, damit wieder alles ins Bild passte. Mit einem Male gibt es keine politischen Risiken mehr für die Gemeinschaftswährung – die wichtigsten und gefährlichsten Wahlen für die Finanzmärkte scheinen für dieses Jahr bereits hinter uns zu liegen. Den Rest hat Mario Draghi bei seiner berühmten Rede im portugiesischen Sintra vor zwei Wochen besorgt, als er andeutete, die Europäische Zentralbank könnte sich demnächst mit einer Abkehr von der ultra-lockeren Geldpolitik zumindest gedanklich befassen. Plötzlich wird den Worten des EZB-Präsidenten sogar mehr Gewicht beigemessen als den Ausführungen der Chefin der US-Notenbank Janet Yellen. Obgleich weder klar ist, wann der Abschied von der ultra-lockeren Geldpolitik in der Eurozone beginnen und wie lange er dauern wird, haben die Finanzmärkte entsprechend deutlich reagiert.

 

Auf der Suche nach dem Potenzial

Dennoch tun sich viele Euro-Händler schwer, das obere Ende des derzeitigen Aufwärtstrends auszumachen. Wer vor kurzem mental noch an der Parität als Ankerpunkt hing und mittlerweile angesichts der Gegenbewegung des Euro kapituliert hat, wird sich trotzdem schwertun, umzudenken. Unlängst erfuhr ich von einem Kommentator, dass man sich (vorausgesetzt 1,0340 bleibt tatsächlich der tiefste Kurs für dieses Jahr – Wahrscheinlichkeit 99,9 Prozent) einfach nur an den Handelsbandbreiten der vergangenen Jahre seit Einführung des Euro orientieren müsse. Ich habe mir deswegen einmal – obwohl ich solche Rechnungen für Quatsch halte und eigentlich ablehne – die Mühe gemacht, nachzumessen, und komme (siehe da!) auf eine durchschnittliche Handelsbandbreite von 15,7 Prozent[1] pro Jahr. So gesehen landet man (addiert zum Jahrestief) bei einem Jahreshoch für den Euro von rund 1,20 USD. Nur um einen Eindruck zu vermitteln, wie mancherorts Langfrist-Prognosen erstellt werden.

Immerhin können sich ausländische Investoren, sofern sie zu Jahresanfang auf deutsche Aktien gesetzt haben, gemessen an der DAX-Entwicklung die Hände reiben. Denn neben einem Plus des Börsenbarometers von 8,7 Prozent per heute können sich etwa US-Investoren, sofern sie ihr Währungsrisiko nicht abgesichert haben, in summa sogar über einen Gewinn von mehr als 18 Prozent freuen.

Ob die einheimischen Investoren derzeit Grund zur Freude haben, zeigt die heutige Stimmungserhebung der Börse Frankfurt, die ich dieses Mal HIER schriftlich kommentiert habe. Ein entsprechendes Video-Interview finden Sie HIER.

[1] jeweils bezogen auf die Mitte der jährlichen Bandbreite

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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