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12. November 2010

Samstagnachmittag in Frankfurt. Mitten im Gewühl auf der Zeil erkannte ich meinen alten Freund S., den ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Kurz entschlossen setzten wir uns ins nächstgelegene Café – etwas, was ich normalerweise wegen des Trubels am Wochenende nicht gerne mache. Beim Cappuccino erzählten wir einander, wie es uns in der Zwischenzeit ergangen war. S. machte nicht den allerglücklichsten Eindruck, als er auf seine Familie zu sprechen kam. Vor allem aber klagte er über die vielen Marotten seiner Frau. Kleine Fehler, Ticks und Lässlichkeiten, über die er früher einmal hinweg gesehen hatte – als er noch frisch verliebt gewesen war. Aber das war vor 20 Jahren. Und dann begann mein Freund, in Erinnerungen zu schwelgen. Was für ein glücklicher Mensch er damals gewesen war. Da erinnerte auch ich mich daran, wie er seine spätere Frau einst kennengelernt hatte.

Alles hatte, wie so oft,  mit einem harmlosen Abendessen begonnen, zu dem S. seine Angebetete – Hildegard – eingeladen hatte. Und weil die erste Einladung um Mitternacht mit einem Gutenachtküsschen auf die Wange geendet hatte, folgten eine zweite und eine dritte. Bei meinem Freund steigerte der ausbleibende Erfolg nicht nur die Verliebtheit, sondern auch seinen monetären Einsatz. Beim dritten Tête-à-Tête geschah jedoch etwas, was S. zu denken hätte geben müssen: Dieses Mal gab es nicht nur Sushi oder Fingerfood, sondern ein mehrgängiges Menü. Und nun beobachtete  S. leicht irritiert, wie Hildegard Gabel und Messer mit den Fäusten packte und senkrecht auf die Tischkante rammte. Nicht gerade die feine Art. Aber S. sah großzügig darüber hinweg, ein kleiner Schönheitsfehler, nicht mehr. Wie viele dieser kleinen Makel und Schwächen, die Hildegard im Laufe weiterer Treffen offenbarte und die mein Freund heute als Marotten bezeichnet.

S. ist übrigens Psychologe und weiß natürlich heute ganz genau, was damals passiert war. Er hatte nämlich bereits in zwei teure Abendessen investiert und war kurz davor, das dritte zu bezahlen. „Ich saß in der Commitmentfalle“, gab er zu. Dem Investment stand nämlich eine störende Wahrnehmung gegenüber, die S. als dissonant empfunden hatte. Und da gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder die Liebesgeschichte aufzugeben (was einer Rückgängigmachung einer Entscheidung entsprochen hätte) oder das Wahrgenommene zu ignorieren. S. entschied sich angesichts von Hildegards vielen anderen Vorzügen für die zweite Option.

Und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Traf S. vor kurzem erneut auf der Zeil. Er kaufte sich gerade eine neue Krawatte. Für ein Abendessen, zu dem er seine Sekretärin eingeladen hatte.

SCHLAGWÖRTER

15. November 2010

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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