Behavioral Living Märkte

Feilschen für Fortgeschrittene – Fromme Pilger auf dem Basar (Teil II)

am
9. November 2010

Wer glaubt, mit dem Bezahlen sei ein Geschäft auf dem Basar besiegelt, der irrt. Zum Glück bin ich dem Decken-Verkäufer in der Jerusalemer Altstadt nicht ein weiteres Mal auf den Leim gegangen, als ich ihm für die schöne Decke (Preis 140 Schekel) eine 200-Schekel-Note in die Hand drücken wollte. Denn der beflissene Händler schien leider nicht in der Lage zu sein, mir das Wechselgeld herausgeben zu können. Mit einem Ausdruck des Bedauerns zog er seine leeren Hände wieder aus der Hosentasche hervor und zuckte entschuldigend die Achseln. Waren die Geschäfte an diesem Tag denn so schlecht gelaufen, dass er gar keine Einnahmen hatte? Stattdessen bot er mir an, für den Restbetrag von 60 Schekel doch einen weiteren Kunstgegenstand bei ihm zu erstehen, einen handgewebten Kissenbezug vielleicht oder einen farbenfrohen Tischläufer. Mit der prachtvoll bestickten Decke hätte ich ja bereits ein super Schnäppchen gemacht.

Dieses Mal lehnte ich jedoch ziemlich schroff einen weiteren Handel ab. Denn ich konnte mich in diesem Augenblick noch dunkel daran erinnern, dass ich irgendwo einmal gelesen hatte, womit die meisten Herrenausstatter ihr Geld verdienen. Nicht mit den teuren Anzügen, sondern mit den Accessoires, die sie dem Kunden bei der Anprobe auch noch in die Garderobe reichen: ein Paar Socken hier, eine neue Krawatte oder ein neuer Gürtel da und dann und wann auch gerne mal ein Einstecktuch. In der Wahrnehmung vieler Verbraucher kommt es auf diese zusätzlichen Ausgaben dann nicht mehr an, nachdem sie einmal bereit gewesen waren, für sehr viel Geld den neuen Anzug zu erstehen.

Ich bestand also auf das Wechselgeld und es gelang mir außerdem, meine Familie durch den Basar zu lotsen, ohne dass wir an weiteren Ständen Halt machten. In einem Café am Rande der Altstadt trafen wir dann auf eine katholische Pilgergruppe aus Paderborn, die die Grabeskirche besucht hatte, auf der Via Dolorosa aber ebenfalls in einen Kaufrausch verfallen und nun mit Tüten und Taschen voller schöner Reiseandenken beladen war. Einer älteren Dame fiel sofort die von mir erstandene kunstvoll bestickte Decke auf: „Ich hoffe doch, Sie haben den Preis ordentlich nach unten gehandelt – 50 % Nachlass sind immer drin!“, sagte sie mit Nachdruck. Anscheinend wandelte sie nicht das erste Mal auf den Wegen des Herrn. Ich aber geriet ins Grübeln, denn 50 % Preisnachlass entsprechen exakt der Mitte zwischen dem ersten Preisangebot des Verkäufers und dem niedrigsten möglichen Gebot des Käufers, nämlich null. Wie hatte die Dame das nur fertig gebracht?

Mit einem Male wurde mir klar, dass die so genannte Mitte zweier Feilscher – obwohl einem das immer suggeriert wird – nicht zwangsläufig fair sein muss. Zumal der Anbieter der Ware in unserem Fall einen deutlichen Vorteil hat: Er kennt im Gegensatz zu uns mit hoher Wahrscheinlichkeit den Wert der Sache, die er verkaufen möchte. Der Kaufinteressent ist aber nicht nur deshalb im Nachteil. Er wird auch nicht einen extrem niedrigen Preis, womöglich sogar nahe Null, nennen, um die Familie seines Gegenübers nicht zu beleidigen. Und so bleibt eine schöne Decke, selbst wenn sie um die Hälfte heruntergehandelt wurde, immer noch viel zu teuer. Am Ende haben Höflichkeit, Altruismus, Fairness eben ihren Preis. Genauso wie unsere Einbildung, wir hätten durch geschicktes Verhandeln ein echtes Schnäppchen gemacht.

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Joachim Goldberg
Frankfurt am Main

Seit rund 40 Jahren beschäftigt sich Joachim Goldberg mit dem Zusammenspiel von Menschen und Märkten. Bis heute faszinieren ihn die vielen Facetten, Nuancen, Geschichten, Analysen und Hintergründe, die sich in der weißgezackten Linie auf der großen Börsenkurstafel niederschlagen. Aber erst mit der Entdeckung der psychologischen Einflüsse auf die Finanzmärkte meint der studierte Bankfachwirt und frühere Devisenhändler dem, was die Welt der Finanzen antreibt und bewegt, nahe gekommen zu sein.

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